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Mitteilungsblatt Nordheim

Neues aus Nordheim und Nordhausen

Offener Appell des Gemeindetages zur Lage der Kommunen

Erfasst von: Redaktion, Aslan, Selin | 29.09.2025

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger aus Nordheim und Nordhausen,

der Präsident des Gemeindetags Baden-Württemberg, Steffen Jäger, hat sich mit einem eindringlichen Appell zur aktuellen Lage unseres Landes und zur Rolle der Gemeinden zu Wort gemeldet. Auch bei uns in Nordheim merken wir immer stärker: So wie bisher kann es nicht weitergehen – wir stoßen an unsere Grenzen, teilweise sind sie schon überschritten.

Besonders spürbar wird das bei den Finanzen. Wir arbeiten gerade am Haushalt für 2026. Schon jetzt zeigt sich: Unsere laufenden Einnahmen werden nicht reichen, um die laufenden Ausgaben zu decken. In den Jahren danach wird es noch schwieriger. Dann werden die Defizite so groß sein, dass kleine Einsparungen nicht mehr ausreichen.

Wie Steffen Jäger für das ganze Land feststellt, gilt auch für uns: Wir leben über unsere Verhältnisse. Die Ursachen nur bei Corona, dem Krieg in der Ukraine oder Entwicklungen in Amerika zu suchen, wäre zu einfach. Auch bei uns im Land und in der Gemeinde sind Leistungen aufgebaut und Erwartungen geweckt worden, die wir auf Dauer nicht erfüllen können – auch wenn vieles davon gesetzlich vorgeschrieben ist.

Ich finde es nicht richtig, allein mit dem Finger auf andere zu zeigen. Natürlich brauchen wir eine Politik, die klare und verlässliche Rahmenbedingungen setzt. Aber auch wir hier vor Ort müssen ehrlich hinschauen und Konsequenzen ziehen.

Das wird ein schwieriger Prozess, der nicht ohne Ärger oder Enttäuschungen ablaufen wird. Aber er ist notwendig, wenn wir auch in Zukunft handlungsfähig bleiben wollen.


Ich bitte Sie daher: Lesen Sie den Brief von Gemeindetagspräsident Steffen Jäger, den ich ausdrücklich unterstütze. Auch Landkreistagspräsident Dr. Brötel ruft in einer begleitenden Pressemitteilung dazu auf, die dringend nötigen Reformen mitzutragen. Beide Texte finden Sie im Anschluss.

Mit freundlichen Grüßen

Ihr

Volker Schiek
Bürgermeister

Steffen Jäger, Präsident des Gemeindetags Baden-Württemberg
Steffen Jäger, Präsident des Gemeindetags Baden-Württemberg

Brief an die Bürgerinnen und Bürger in den Städten und Gemeinden in Baden-Württemberg zum Tag der Deutschen Einheit 2025

Meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Bürgerinnen und Bürger,

mein Name ist Steffen Jäger, und ich bin Präsident des Gemeindetags Baden-Württemberg – der Stimme von 1.065 Städten und Gemeinden.

Heute will ich mich auf ungewöhnliche Weise direkt an Sie wenden: nicht nur als Funktionsträger, sondern als Demokrat, als Bürger dieses Landes.

Denn die Lage ist ernst. Das spüren die Städte und Gemeinden. Das spüren Sie. Das spüren wir alle.

Der Krieg in der Ukraine führt uns schmerzhaft vor Augen: Frieden in Europa ist keine Selbstverständlichkeit. Gleichzeitig verschieben sich globale Machtverhältnisse. Die USA distanzieren sich – wirtschaftlich und sicherheitspolitisch. Wir können uns nicht mehr darauf verlassen, dass andere unsere Verteidigung übernehmen. Wir sind selbst gefordert. Wir müssen selbst Verantwortung tragen.

Gleichzeitig geraten wir wirtschaftlich unter Druck. Zwei Jahre Rezession, Standortverlagerungen, wachsender internationaler Wettbewerbsdruck: Unsere Volkswirtschaft hat an Schwung verloren.

Wirtschaftliche Stärke ist aber das Fundament für das, was unser Gemeinwesen ausmacht: ein funktionierender Sozialstaat, ein handlungsfähiger Rechtsstaat, eine lebendige Demokratie.

Diese Demokratie lebt in unseren Städten und Gemeinden. Hier wird im Schulterschluss zwischen Rathaus und Bürgern die Grundlage für das Gelingen unseres Staates gelegt.

Straßen, Brücken, Wasserversorgung, Kitas, Schulen, Feuerwehr, Sport- und Kulturstätten, Vereinsförderung und vieles mehr. Daseinsvorsorge und das gesellschaftliche Zusammenleben sind ohne handlungsfähige Kommunen nicht möglich.

Was droht, wenn wir nicht handeln

Die Kommunen sind damit das Rückgrat eines gelingenden Staates. Doch ihre Handlungsfähigkeit ist gefährdet. Die Kommunalfinanzen sind in einer solch dramatischen Schieflage, dass bereits die Erfüllung der Pflichtaufgaben kaum mehr möglich ist.

Konkret heißt das: Die Sanierung der Sporthalle, des Kindergartens oder der Schule fallen aus. Investitionen in Klimaschutz oder Klimawandelanpassung werden gestrichen. Die Nutzungsgebühren steigen, die Hebesätze für Grund- und Gewerbesteuer reichen nicht mehr aus. Frei- und Hallenbäder lassen sich nicht mehr halten, die Vereinsförderung kommt auf den Prüfstand, Öffnungszeiten in Kitas oder auch der Bibliothek müssen reduziert werden.

Keine dieser Maßnahmen will ein Kommunalpolitiker beschließen – doch vielerorts werden sie unvermeidlich.

Geld allein wird dies jedoch nicht lösen. Denn was wir erleben, ist nicht nur eine finanzielle Überlastung – es ist ein strukturelles Problem. Der Staat lebt über seine Verhältnisse – und das seit Jahren.

Die Summe an staatlichen Leistungszusagen, Standards, Versprechen hat ein Maß erreicht, das mit den verfügbaren Ressourcen nicht mehr erfüllbar ist.

Es braucht deshalb eine mutige Reform – strukturell und gesamtstaatlich

Deshalb sind wir als Gesellschaft gefordert, eine strukturelle Antwort zu geben. Wir brauchen eine ehrliche, gesamtstaatliche Reform. Das heißt: weniger Einzelfallgerechtigkeit und mehr Eigenverantwortung. Wir brauchen eine Aufgaben- und Standardkritik, die den Mut hat, Prioritäten zu setzen. Und wir brauchen die Bereitschaft, neu zu fragen: Was kann und muss der Staat leisten – und was kann er nicht mehr leisten, ohne sich selbst zu überfordern?

93 Prozent der Bürgermeisterinnen und Bürgermeister in Baden-Württemberg fordern eine konsequente Reform in diesem Sinne.

Doch auch wir als Gesellschaft müssen bereit sein, eine solche Reform mitzugehen. Wir müssen beitragen – nicht nur erwarten. Wir müssen vertrauen – in unseren Gemeinsinn, seine Werte und unsere Kraft des Füreinanders. Wir müssen bereit sein, mehr zu leisten – für den Staat, für die Gemeinschaft, für das Gelingen unserer freiheitlichen Demokratie.

Demokratie ist kein Bestellshop – sie ist die Einladung an alle, sich mit ganzer Kraft für eine freiheitliche und wohlständige Gesellschaft einzubringen. Und deshalb kann Demokratie auf Dauer nur erfolgreich sein, wenn wir alle unseren Beitrag dazu leisten.

Wir brauchen auch Ehrlichkeit in der Migrationspolitik. Integration gelingt dann, wenn die Zugangszahlen beherrschbar und auch Mitwirkung und Rückführung ein wirksamer Teil des Systems sind. Wer zu uns kommt, muss unsere freiheitlich-demokratischen Grundwerte achten. Und er oder sie muss auch zum Gelingen von Gesellschaft und Volkswirtschaft beitragen. Eine erfolgreiche und akzeptierte Migrationspolitik muss dies leisten. Dies aber immer auf der Grundlage von Humanität und Verantwortung. Menschenverächter haben keine Lösungen, sie haben nur Propaganda. Wir Demokraten müssen beweisen, dass wir es besser können.

Und auch beim Klimaschutz gilt: Wir können als Deutschland nur erfolgreich sein, wenn unser Weg für andere Staaten ein Vorbild ist – klar im Ziel, ökologisch wirksam, ökonomisch tragfähig und gesellschaftlich akzeptiert.

Das Grundgesetz als unser gemeinsames Fundament

Unser Grundgesetz war nie als Schönwetterordnung gedacht. Es wurde formuliert in einer Zeit, in der unser Land moralisch, politisch und wirtschaftlich in Trümmern lag. Es ist eine der größten Wohltaten, die unser Land je erfahren hat. Und es verpflichtet uns: zur Selbstverwaltung, zur Verantwortung, zur Teilhabe. Zur res publica – zur gemeinsamen Sache.

Die Gemeinden sind der Ort der Wahrheit, weil sie der Ort der Wirklichkeit sind.

Es gilt, diese Wirklichkeit anzuerkennen und aus der Krise den Mut zur Erneuerung zu schöpfen.

Und deshalb möchte ich dafür werben: machen wir uns bewusst, was unser Staat, was unsere Demokratie zum Gelingen braucht.

Und dazu gehört zuallererst eine neue Ehrlichkeit und ein nüchterner Realismus: Wir stehen vor den größten Herausforderungen seit Jahrzehnten. Als Vertreter der Kommunen sagen wir Ihnen die Wahrheit: dies wird uns allen etwas abverlangen.

Ich bin aber davon überzeugt, wir können das meistern; Gemeinsam, mit Mut und Willen.

Mit einer Haltung, die nicht fragt, was andere tun, sondern, was wir selbst beitragen können. Die Bereitschaft, auch dann standhaft zu bleiben, wenn es unbequem wird. Die Chance, dass wir alle auch künftig in einem lebendigen und freien Land leben dürfen, muss uns Ansporn sein.

Und daher meine Bitte: Machen Sie mit. Für unsere Kinder. Für unser Land. Für unsere Demokratie. Für uns.

In Verantwortung und Verbundenheit,

Ihr Steffen Jäger

Landrat Dr. Achim Brötel, Präsident des Landkreistags Baden-Württemberg
Landrat Dr. Achim Brötel, Präsident des Landkreistags Baden-Württemberg

Auch Landkreistagspräsident Dr. Brötel appelliert an die Bürgerinnen und Bürger: „Unterstützen Sie die dringend erforderlichen Reformen!“

Der Landkreistag begrüßt ausdrücklich den offenen Brief an die Bürgerinnen und Bürger im Land, den Gemeindetagspräsident Steffen Jäger zum Tag der Deutschen Einheit veröffentlicht hat. Dort wird die dramatische finanzielle Lage der Kommunen realistisch beschrieben und es werden zu Recht mutige Reformen sowie ein gesamtgesellschaftlicher Haltungswechsel eingefordert. Der Präsident des Landkreistags Baden-Württemberg, Landrat Dr. Achim Brötel (Neckar-Odenwald-Kreis), der zugleich Präsident des Deutschen Landkreistags ist, äußert sich dazu wie folgt:

„Als Landkreise teilen wir ganz ausdrücklich die tiefe Sorge, die in dem Brief von Gemeindetagspräsident Steffen Jäger zum Ausdruck kommt. Denn die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sind in der Tat gewaltig.

Da sind zum einen die geopolitischen und weltwirtschaftlichen Verwerfungen: die offenen und versteckten Kriege rund um den Globus und bis vor unsere Haustür, eine in ihren Grundfesten erschütterte Weltwirtschaftsordnung, die massive Erschütterung unseres bundesdeutschen Geschäftsmodells basierend auf hohen Exportquoten und niedrigen Energiepreisen.

Und da sind zum anderen und sich verschärfend vor allem auch die Langzeitherausforderungen, die dadurch nicht kleiner werden, dass sie durch Akutkrisen immer wieder ein Stück weit verdrängt werden. Ich nenne hier nur die drei großen D: die unerbittliche Demografie, die unser System sozialer Sicherung schon heute vor gewaltige Herausforderungen stellt, die Dekarbonisierung, also die Umstellung von fossilen Brennstoffen auf erneuerbare Energiequellen, deren Dringlichkeit die Temperaturrekorde dieses Sommers nochmal eindrücklich bestätigt haben, schließlich das dritte große D, die Digitalisierung, bei der wir in Deutschland gegenüber anderen europäischen Ländern deutlich ins Hintertreffen geraten.

Und als ob dies alles nicht genug wäre, stecken die Kommunen aktuell in einer Finanzkrise von noch nie dagewesenem Umfang. Den Landkreisen, Städten und Gemeinden droht in diesem Jahr ein bundesweites Defizit von mehr als 30 Milliarden Euro. Neun von zehn Landkreisen in Baden-Württemberg können ihre Aufwendungen nicht mehr aus laufenden Erträgen bezahlen. Die Kommunalfinanzen befinden sich also ganz offensichtlich im freien Fall.

Die bittere Folge ist: Die Kommunen verlieren zusehends ihre Handlungsfähigkeit, die kommunale Daseinsvorsorge gerät immer mehr unter Druck. Und: Das, was wesentlicher Teil der Erfolgsgeschichte unseres Landes ist, die kommunale Selbstverwaltung, droht wegzurutschen.

Vor diesem Hintergrund teilen wir Landkreise ausdrücklich die Einschätzung, dass es rasch grundlegender Reformen bedarf, um diese vielfältigen Herausforderungen erfolgreich bewältigen zu können. Dazu gehört der konsequente, systematische Abbau überzogener Standards und überbordender Bürokratie ebenso wie eine mutige, kluge Neuausrichtung des Sozialstaats in Richtung Zukunftsfestigkeit. Diese Reformen sind überfällig – und sie müssen vor allem auch schnell umgesetzt werden. Die Demokratie wird nämlich immer vor Ort gewonnen, vielleicht aber eben auch vor Ort verspielt.

Zugleich wollen auch wir sehr deutlich machen, dass die anstehenden strukturellen Reformen uns allen etwas abverlangen werden. Dies wird schon angesichts der Größe der Herausforderungen gar nicht anders möglich sein. Und natürlich wird es dabei teilweise auch zu Veränderungen kommen müssen, die zu akzeptieren nicht leichtfallen wird. Darauf müssen wir uns alle gemeinsam einstellen.

Daher appellieren und setzen auch wir als Landkreise auf den Realitätssinn, die staatsbürgerliche Haltung und das Verantwortungsgefühl aller Bürgerinnen und Bürger unseres Landes:

Unterstützen Sie die erforderlichen, weil zukunftssichernden Reformprozesse. Beteiligen Sie sich als Demokratinnen und Demokraten konstruktiv an den Diskussionen um die richtige Ausgestaltung der zwingend erforderlichen Reformen. Und tragen Sie die demokratisch getroffenen Entscheidungen solidarisch mit.

Lassen Sie uns alle zusammen die Erfolgsgeschichte Deutschlands auch in diesen schwierigen Zeiten fortschreiben. Deutschland ist ein starkes Land und es kann stark bleiben, wenn wir uns alle gemeinsam darum bemühen und uns dafür einsetzen. Denn genau das ist Demokratie – die Kraft der Vielen.“

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