Startseite> Neues aus Nordheim und Nordhausen> Geschichte des Monats November

Mitteilungsblatt Nordheim

Neues aus Nordheim und Nordhausen (Archiv)

Dieser Artikel befindet sich im Archiv!

Geschichte des Monats November

Erfasst von: Redaktion, JJ | 10.11.2022 – 30.11.2022

Zivilarbeiter – Zwangsarbeiter – Kriegsgefangene

Vor einiger Zeit tauchte die Information auf, dass sich an der Nordwestecke des alten Brackenheimer Friedhofs das Grab von Adam Krasson befände, einem Polen, der in Nordheim gelebt und gearbeitet habe und 1942 an den Folgen eines Sturzes gestorben sei. Eine Nachprüfung im Brackenheimer Friedhof bestätigte das Vorhandensein dieses Grabes.Bild Grabstein Krasson

Der Name Krasson ist in Nordheim nicht bekannt, auch von einem derartigen Unfall war bisher nichts bekannt. Interesse und Neugier waren nun aber geweckt, und mit dem Sterbedatum und dem nun vorhandenen Namen konnte man eine Recherche im Gemeindearchiv beginnen. Die Überraschung war groß, als ein Aktenbündel auftauchte mit dem Übertitel „Ausländersuche“. Darin befanden sich die Namen und Daten von 252 Männern und Frauen aus 11 Nationen, die von 1939 bis 1945 teils nur wenige Tage, teils aber auch mehrere Jahre in Nordheim lebten und arbeiteten. Diese Menschen waren Zivilarbeiter, Zwangsarbeiter oder Kriegsgefangene. Unter den Akten befanden sich acht detaillierte Unfallberichte, darunter auch der Bericht über den tödlichen Unfall von Adam Krasson.

Adam Krasson, ein lediger „Zivilarbeiter“ des Jahrgangs 1894 aus Polen, war als Arbeiter in einem landwirtschaftlichen Betrieb in Nordheim angestellt. Am Sonntag, den 9. August 1942 war er am Vormittag zusammen mit vier weiteren Arbeitern damit beschäftigt, einen Garbenwagen abzuladen. Dabei stürzte er in der Scheune aus einer Höhe von 4,70 m auf die Tenne. Die anderen Arbeiter bemerkten diesen Vorfall erst, als Krasson keine Garben mehr weitergab. Als Ersthelfer am Unfallort sind die Sanitäter Hermann Frank und Friedrich Schwab im Formular der Unfallanzeige eingetragen. Als Zeugen werden erwähnt ein Slowene, ein serbischer Arbeiter sowie Gustav Krieger und Gustav Metzger aus Nordheim. Der Verunglückte wurde noch in das Krankenhaus nach Brackenheim gebracht, wo er seinen Verletzungen erlag. Der behandelnde Arzt war Dr. Elsässer aus Brackenheim, beerdigt wurde Adam Krasson auf dem dortigen Friedhof.

Wie kam es dazu, dass in Nordheim in der Zeit von1939 bis 1945 über 250 Männer und Frauen aus 11 Nationen gemeldet waren (96 Russland/Sowjetunion, 70 Polen, 42 Frankreich, 18 Niederlande, 7 Jugoslawien, 6 Italien, 5 Spanien, 4 Tschechoslowakei, 2 Lettland, 1 Estland, 1 Belgien)? Was kann man heute, etwa 80 Jahre später, über diese Menschen noch in Erfahrung bringen?

Mit Beginn des Zweiten Weltkriegs fehlten sowohl in der deutschen Landwirtschaft als auch im Handwerk und in der Industrie durch die Einberufung der deutschen Männer in großem Umfang Arbeitskräfte. Dieses Defizit versuchte man durch massenhaften Einsatz von ausländischen Arbeitskräften auszugleichen. Zunächst versuchte man die Anwerbung von „Zivilarbeitern“ in den verbündeten europäischen Ländern auf freiwilliger Basis. Das hatte aber nur geringen Erfolg, weshalb man in Polen und Tschechien ab 1940 immer mehr Frauen und Männer zwangsverpflichtete. Hinzu kamen zunehmend Kriegsgefangene aus den besetzten Ländern West- und Südeuropas sowie die sogenannten „Ostarbeiter“ aus den besetzten Gebieten der Sowjetunion. Die in Nordheim eingesetzten ausländischen Arbeitskräfte arbeiteten vor allem in der Landwirtschaft sowie bei den Firmen Schneider, Eberhard und Viertel.

Der Begriff „Zivilarbeiter“ ist aus heutiger Sicht irreführend, denn er besagt lediglich, dass es sich bei diesen Menschen um keine Kriegsgefangenen oder KZ-Häftlinge handelt. Auch verweist diese Bezeichnung nicht auf besonders zivilisierte Lebensumstände dieser Frauen und Männer hin. Sie waren keinesfalls freie, zivile Menschen, sondern sie standen unter großem Zwang und waren nahezu rechtlos, wie man an den Bestimmungen der „Ostarbeitererlasse“ nachlesen kann:

  • Verbot, den Arbeitsplatz zu verlassen
  • Verbot, Geld und Wertgegenstände zu besitzen
  • Verbot, Fahrräder zu besitzen, Fahrkarten zu erwerben, Feuerzeuge zu besitzen
  • Kennzeichnungspflicht: Ein Stoffstreifen mit der Aufschrift „Ost“ musste gut sichtbar auf jedem Kleidungsstück befestigt werden
  • Die Betriebsführer und Vorarbeiter besaßen ein Züchtigungsrecht
  • weniger Lohn und schlechtere Verpflegung als für Deutsche
  • Verbot jeglichen Kontakts mit Deutschen, selbst der gemeinsame Kirchenbesuch war verboten
  • Gesonderte Unterbringung der Ostarbeiter, nach Geschlechtern getrennt
  • Bei Nichtbefolgen von Arbeitsanweisungen bzw. Widersetzlichkeit drohte die Einweisung in ein Arbeitserziehungslager, die Bedingungen in diesen Lagern ähnelten denjenigen eines Konzentrationslagers
  • Strenges Verbot des Geschlechtsverkehrs mit Deutschen, darauf stand zwingend die Todesstrafe

Diese Vorschriften waren in polnischer und in deutscher Sprache auf einem zweiseitigen Blatt abgedruckt. In Nordhausen musste der Pole Andrey Kulanewsy am 31.5.1940 den Text in polnischer Sprache seinen Landsleuten im Beisein des Ortsbauernführers vorlesen.

 

Abzeichen OST

Das Ostarbeiter-Kennzeichen musste die Maße 70 x 77 mm haben, mit 10 mm breiter blauweißer Umrandung versehen sein und das Wort „OST“ in weißer Schrift auf blauem Grund besitzen.

 

Bild Ostarbeiterin

Bild Ostarbeiterin

Zwei Ostarbeiterinnen mit dem vorgeschriebenen Abzeichen. Diese beiden Frauen waren in Nordhausen beschäftigt.

 

Wie streng gerade der letzte Punkt behandelt wurde, zeigt ein Vorfall aus Cleebronn:

Weil er angeblich eine Beziehung zu einer deutschen Frau unterhielt, wurde der polnische Zwangsarbeiter Josef Huczak (*24.9.1914) im Gewann "Listele" auf Cleebronner Markung am 15. Juli 1941 durch die Gestapo (Geheime Staatspolizei) öffentlich erhängt. Andere polnische Zwangsarbeiter aus der Umgebung mussten diesem schrecklichen Geschehen zur Abschreckung beiwohnen.

Die ersten fremden Arbeitskräfte in Nordheim waren polnische Kriegsgefangene, die im Herbst 1939 hierher kamen. Durch die Einberufung zahlreicher Landwirte zur Wehrmacht war ein großer Mangel an Arbeitskräften entstanden. Deshalb schloss Bürgermeister Karl Wagner einen Vertrag mit dem Kriegsgefangenen-Stammlager V (Stalag Vc) in Ludwigsburg ab, worauf dieses der Gemeinde 20 polnische Kriegsgefangene sowie 2 Wachleute zur Verfügung stellte. Die Gemeinde hatte gegenüber dem Stalag Vc in Ludwigsburg, das die Gefangenen „lieferte“, künftig als „Unternehmen“ aufzutreten. Pro Mann und Tag musste die Gemeinde an das Stalag ein Arbeitsentgelt abführen. Außerdem hatte die Gemeinde für die Unterbringung und Verpflegung der Leute zu sorgen. Die Gesamtkosten wurden auf die Landwirte, bei denen die Arbeiter beschäftigt waren, im Verhältnis der angefallenen Arbeitstage umgelegt. Diese Kosten waren 1939/40 sehr niedrig, aber nicht konstant, da die Unkosten für die Gemeinde schwankend waren. Für einen polnischen Arbeiter waren pro Arbeitstag 1939 von den Landwirten 0,65 Reichsmark zu bezahlen (im Herbst 1940 für einen Franzosen 1,25 RM). Am 24.7.1940 wurden 10 französische Kriegsgefangene zur Verfügung gestellt, ab 1.9.1940 wurde das Polenlager aufgehoben, nun waren zunächst ausschließlich Franzosen im Ort, im Herbst 1940 insgesamt dreißig Mann.

 

Bild französische Kriegsgefangene

Französische Kriegsgefangene vor der alten Turnhalle

 

Die Kriegsgefangenen wurden in der damaligen Turnhalle an der Ecke Süd- und Brackenheimer Straße untergebracht, die dafür hergerichtet, eingezäunt und vergittert wurde. Die Wachleute hatte man in der Nähe des Lagers privat eingemietet, ihre Verpflegung erhielten sie in der „Fortuna“. Weil die Turnhalle weiterhin für den Turnunterricht nicht mehr zur Verfügung stand, mietete die Gemeinde für den Turnbetrieb der Schule ab dem 1.4.1941 den Saal der „Siegeshalle“ an.

Zeitweise waren auch im Marval’schen Gesindehaus zunächst Franzosen, später russische „Zivilarbeiter“, Männer und Frauen, untergebracht, die bei der Firma Schneider beschäftigt waren. Interessant ist eine Zusammenstellung vom August 1944 über die 61 ausländischen Arbeitskräfte bei dieser Firma, die wichtige Güter für die Rüstung produzierte: 15 Ostarbeiter, 14 Ostarbeiterinnen, 16 Holländer, 13 Franzosen, 1 Italiener. 1 Mazedonier, 1 Staatenloser. Die Schicksale dieser fremden Menschen und ihr Verhältnis zur Nordheimer Bevölkerung waren sehr unterschiedlich. Es gab ausbeuterisches Herrenmenschengebaren, aber auch freundschaftliche Beziehungen, die sogar das Ende des II. Weltkriegs überdauerten.

Eine in der Talstraße beschäftigte Polin brachte im September 1943 ein Kind zur Welt. Der Vater des Kindes war ein im Ort beschäftigter Pole. Am 6.April 1945 starb das Kind Susanna Gulojan im Alter von acht Monaten an einer Grippe. Seine Eltern stammten aus Russland, sie waren am 8. Februar 1945 nach Nordheim gekommen und arbeiteten bei der Firma Schwarzkopf. Das kleine Mädchen wurde am 8.4. im Friedhof an der Ostseite bei den Kindergräbern von seinen Eltern beerdigt.

Schrecklich zu lesen sind die im Archiv vorhandenen Unfallberichte aus der Landwirtschaft. Ein französischer Kriegsgefangener sowie ein Pole brachten jeweils ihre Hand in die Futterschneidmaschine und erlitten dabei Quetschungen. Einer Polin riss es den Mittel- und den Ringfinger ab, weil sie das Leitseil ihres Kuhgespannes um die Hand gewickelt hatte und sich dieses um das Rad eines entgegenkommenden Fuhrwerks gewickelt hatte. Ein Pole verlor seinen Daumen und seinen Zeigefinger, weil er beim Mahlen von Mohnkapseln in einer Rübenmühle einen Materialstau mit der Hand beseitigen wollte. Und schließlich der eingangs erwähnte tödliche Unfall von Adam Krasson durch den Sturz in einer Scheune.

Über die Situation der Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter während des Einmarsches der Besatzungsmächte und in den Tagen danach gibt es wenige genaue Berichte. Ein Teil der französischen Kriegsgefangenen blieb bis zur Einnahme hier und schloss sich dann den französischen Truppen an bzw. wurde von diesen abtransportiert. In einigen Fällen setzten sich französische Kriegsgefangene oder Zivilarbeiter beim französischen Militär für ihren bisherigen Herrn hilfreich ein, z.B. durch gutes Zureden bei Konflikten oder durch Hilfe beim Übersetzen. Manche Einheimische fürchteten aber auch Racheakte seitens der Zwangsarbeiter, sobald diese frei waren. Für viele Ausländer, vor allem aus den Ostländern, war die Situation ab April 1945 und in den Monaten danach sehr verworren, da sie nicht wussten, ob und wie sie in ihre alte Heimat zurückkommen könnten, da die politischen Machtverhältnisse in diesen Ländern unklar oder völlig verändert waren. Ende April 1945 befanden sich noch etliche Holländer sowie russische Frauen und Männer hier in Nordheim. Die meisten Ostarbeiter im Deutschen Reich wurden nach 1945 auf sowjetischen Druck in die Sowjetunion zurückgeführt. Dort kamen viele von ihnen in das Lagersystem des Gulag, weil man sie wegen ihres (erzwungenen) Aufenthalts in Deutschland der Kollaboration mit dem Feind und der Spionage beschuldigte.

 

Ulrich Berger

 

Geschichte des Monats November

instagram