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Mitteilungsblatt Nordheim

Neues aus Nordheim und Nordhausen (Archiv)

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Geschichte des Monats Juni

Erfasst von: Redaktion, DS | 10.06.2021 – 17.06.2021

Hinweis: Der Deutsche Waldensertag hätte am 19./20. Juni 2021 in Nordhausen stattfinden sollen. Er musste coronabedingt auf Juni 2022 verschoben werden. Mit der folgenden Geschichte des Monats soll dennoch an das Schicksal der Waldenser und an die Gründung von Nordhausen erinnert werden.

 

Entstehung des Waldenserdorfes Nordhausen und seiner Markung

 

Bild 1 Geschichte des Monats

Die ersten sieben Namen mit Anzahl der Personen auf einer Liste der im Juni 1700 neu angekommenen Waldensern, von oben: Clapier, Gay, Borel, Conte, Piston, Ronchail und Bonnet.

 

Der Ursprung der Waldenserbewegung reicht zurück bis zum Ende des 12. Jahrhunderts. Im Laufe ihrer Geschichte erlebte diese in Europa weit verbreitete Glaubensbewegung viele Höhen und Tiefen. Verfolgung, Exkommunikation, Abspaltungen und Rückzug in den Untergrund prägten die Entwicklung dieser Laienbewegung. In Europa hielten sich waldensische Gemeinschaften vor allem in den Gebirgstälern der Cottischen Alpen im Grenzgebiet zwischen Frankreich und Italien auf. Durch Missionierung kam die Waldenserbewegung dort in die drei Alpentäler Val Chisone (okzitanisch Val Cluson), Valle Germanasca und Val Pellice, die man heute auch als Waldensertäler bezeichnet. Fast alle Waldenser, die um 1700 Kolonien in Deutschland gründeten, stammten aus dem Chisone-Tal (französisch Cluson). Der endgültige Schlusspunkt für die Waldenser in den Waldensertälern wurde 1698 durch das Ausweisungsedikt des Herzogs von Savoyen gesetzt, der auf Druck von Frankreich alle aus Frankreich stammenden Protestanten des Landes verwies. Noch im Herbst 1698 verließen fast 3000 Menschen ihre Heimat. Sie zogen über die Alpen zunächst in die Schweiz, wo sie den Winter über notdürftig in den evangelischen Kantonen untergebracht wurden. Doch bereits im Frühjahr mussten die Waldenser weiterziehen, da in der Schweiz kein Platz für sie war und die Ernte 1698 schlecht ausgefallen war. Bereits in diesem und im folgenden Jahr verhandelten die Führer der Waldenser mit Hessen-Darmstadt und mit Württemberg über die Ansiedlung der Flüchtlinge. Man plante zunächst, die Menschen aus dem Val Pérouse in Württemberg und aus dem Val Pragela in Hessen-Darmstadt anzusiedeln, weil die Waldenser nach ihrer Flucht aus ihren früheren Herkunftsgemeinden möglichst zusammenbleiben wollten. Ein Teil der ausgewiesenen Waldenser gründete nun zunächst 1699 auf der „Spielberger Platte“ in Wächtersbach (Hessen) die Kolonie „Waldensberg („Waldenser Berg“). Dieser Ort lag auf einer Anhöhe und war Wind und Wetter ausgesetzt, vor allem aber litt man an Wassernot. Die nächste Quelle lag eine halbe Stunde entfernt und das Wasser war schlecht. Die Folge war, dass im Frühjahr des Jahres 1700 mehr als die Hälfte der Siedler wieder wegziehen wollten und ihre Anführer nach alternativen Siedlungsplätzen suchten. Bereits am 10. März 1700 ging beim württembergischen Herzog ein Gesuch in französischer Sprache ein, in dem Etienne und Jean Jordan, Jacques Berger und Jean Renier um die Aufnahme von 35 Familien im Amt Brackenheim baten. Im Mai1700 besichtigten David Conte und Estienne Sallen mit dem Vogt von Brackenheim die Gegend um Hausen und Nordheim. Das Breibachtal zwischen Hausen und Nordheim schien für eine Ansiedlung geeignet, es lag verkehrsgünstig und vor allem gab es genügend und gutes Wasser.

Der Brackenheimer Vogt schreibt dazu: „Die Waldenser 4 Abgeordnete haben sich heute auf die questienierten(=fraglichen) pläz hinausbegeben und bey Nordtheim und Hausen augenschein eingenommen, es will Ihnen aber der plaz bey Nordtheim, weil kein lebendig waßer vorhanden, nicht gefallen, der orth bey Hausen aber woselbst zerschiedene bronnenquellen ist Ihnen sehr annehmlich, und haben sie sich refolairet, innerhalb 2 a 3 wochen mit ihren familien herbey zu kommen, baraquen zu bauen und das verödete Feldt umzubrechen….“

 

Bild 2 Geschichte des Monats

Einfaches Waldenserhaus aus der Frühphase Ecke Weststr./Weinbergstr. (Neubig/Conte).

 

Am Anfang wohnten die Waldenser in einfachen Hütten aus Holz und Lehm.
Die einfachen Waldenserhäuser aus Fachwerk und Stein wurden erst einige Jahre nach der Ankunft errichtet. Das Bauholz für diese späteren festen Häuser wurde ihnen aus dem Staatsforst bei Liebenzell kostenfrei zur Verfügung gestellt.

 

Dass man ausgerechnet das Gebiet und die Flächen bei Hausen und Nordheim für die Ansiedlung der Waldenser in Augenschein nahm, war kein Zufall, sondern war der damaligen Situation geschuldet:
Auf Nordheimer und Hausener Markung lagen viele Morgen Äcker und Weinberge „wüst“, das heißt, sie wurden seit Jahren nicht mehr genutzt und bebaut, sie waren von Gestrüpp überwuchert und lagen brach. In Zahlen ausgedrückt: 1697 gab es in Nordheim 890 Morgen wüste Äcker (Hausen 750 M) und 458 Morgen wüste Weinberge (Hausen 304 M). In Nordheim standen 34 Häuser und Hofstätten leer, in Hausen waren es sogar 134. Dadurch wurden aus diesen Grundstücken auch keine Abgaben wie Steuern oder der Zehnte entrichtet, was der Obrigkeit sicherlich nicht entgangen war. Doch wie kam es überhaupt zu diesen katastrophalen Zuständen, was waren die Ursachen für die damalige Situation? Was lässt sich über das Dorf und seine Bewohner aus dieser Zeit in Erfahrung bringen? Die Hauptursache liegt in den Kriegen und Kriegsfolgen während des 17. Jahrhunderts, vor allem an den Auswirkungen des Dreißigjährigen Krieges. Wobei für Städte und Dörfer vor allem an den Begleiterscheinungen des Krieges litten wie Einquartierung, Versorgung und Verpflegung der Soldaten mit Ross und Reiter, Plünderungen, Brandschatzung, Teuerung, Hunger und Pest. Die Kriegsfolgen in den 1630er Jahren waren für Nordheim und das gesamte Amt Brackenheim furchtbar. 1634 hatte Nordheim knapp 700 Einwohner, 1647 war die Zahl auf etwa110 Einwohner zurückgegangen (gegenüber 460 Einwohner im Jahr 1544!).

 

Den letzten Rest und katastrophale Not brachte dann am Ende des 17. Jahrhunderts für Nordheim und große Teile Württembergs der Einfall französischer Truppen im Rahmen des Pfälzer Erbfolgekrieges. Im Zuge dieser Truppenbewegungen wurde Nordheim im Juni 1693 „elendt und erbärmblich mit Brandt überzogen“ und ausgeplündert. Die Kirche mit zwei Glocken, das Pfarr- und Rathaus sowie weitere 30 Häuser und Gebäude lagen „jämerlich in der Aschen“. Viele der Einwohner befanden sich zwischen Mai und November 1693 weitgehend auf der Flucht, wobei als Fluchtorte Brackenheim, Bönnigheim und Heilbronn dienten. Im Laufe des Jahres 1694 musste Nordheim weitere sieben Einquartierungen erdulden, die große Kosten und viel Not und Elend mit sich brachten. Bei 11 Verstorbenen des Jahres 1694 in Nordheim hieß es „stirbt Hungers“ oder „stirbt Hungers und verschmachtet“, 1695 waren nochmals 3 Nordheimer verhungert. Die Einwohnerzahl hatte sich seit 1688 nun etwa halbiert auf etwa 120, bis zum Jahr 1700 aber wieder erholt auf etwa 400 Einwohner (Hausen 256). Für die so drastisch dezimierte Einwohnerschaft war es schlichtweg nicht möglich, die weit entfernt vom Ort liegende Güter zu bewirtschaften. Es fehlte an allem: an Saatgut, Zugtieren und an Arbeitskräften. Angebaut wurden hauptsächlich Roggen, Hafer, Dinkel. Die Erntemenge war gering, sie betrug etwa das Dreifache der Saatmenge, und sie musste geteilt werden in die Rücklage für die nächste Aussaat, Abgabe an den Grundherrn und für den eigenen Bedarf. Kartoffeln, Zuckerrüben oder Mais wurden damals noch nicht angebaut. Eine große Rolle spielte aber der Weinbau, weil der Wein ein wichtiges Handelsprodukt war.

 

Bild 3 Geschichte des Monats

Teil der Begründung der Nordheimer Steuerschuld von 15 000Gulden; u.a. der Einfall der feindl. Armee 1693 und 1694, wo „nebst Kirch, Rath u. Pfarrhaus der halbe Fleck eingeäschert ….und geblündert wurde…“

 

Am 10. Juni 1700 erhielten diejenigen Waldenser, die Waldensberg in Hessen verlassen wollten um sich in Württemberg im Amt Brackenheim niederzulassen, ihren Reisepass ausgestellt. Zwischen dem 21. und 23. Juni 1700 kamen so (nach Theo Kiefner) 202 Waldenser in Hausen an. Davon stammten 118 aus Mentoulles, 58 aus Usseaux, 4 aus dem Val Pragela, 1 aus Torre Pellice, 2 aus Nerac und einige mit unbekannter Herkunft. Etwa die Hälfte der Neuankömmlinge wurde in Hausen in drei leerstehenden Häusern einquartiert. Die andere Hälfte der Neuankömmlinge fand in Dürrenzimmern und in Nordheim Unterkunft.

Die Flüchtlinge erhielten nach ihrer Ankunft auf Befehl der herzoglichen Regierung 604 Morgen Flächen von der Nordheimer und der Hausener Markung, da viele Äcker und Weinberge durch die vorherigen Kriegsjahre öd und verwüstet und teilweise auch herrenlos waren. Von Nordheim erhielten die Waldenser 384 Morgen (etwa 121 ha), bestehend aus 364 Morgen (etwa 115 ha) Ackerfläche, 11½ Morgen Weinberge und 6½ Morgen Wiesen. Insgesamt war das der 14. Teil der Nordheimer Markung (1 Morgen = 31,5a). Von Hausen erhielten die Waldenser 220 Morgen (etwa 69ha), das waren der 12. Teil der Hausener  Markung. Die Fläche aus Hausen bestand aus 120 Morgen Ackerland, 76 Morgen Weinberge, 9 Morgen Wiesen und 2 Morgen Wald sowie ein separater Distrikt auf Hausener Markung im Essigberg zwischen den beiden Maysenhöltzlin Wäldlen, der extra mit 10 Steinen versteint wurde. Außerdem noch der Platz für die Häuser und Gärten mit 13 Morgen nahe der Markungsgrenze zu Nordheim. Dabei wurden 54 gleichgroße Plätze für Haus und Küchengarten eingemessen und jeder erhielt zudem „vor seiner portion 30 Quadratruthen“ (etwa 6,3 ar) weitere Fläche zugeteilt. Das Dorf „mit einer Creuz Straßen und noch zwey Creuz Gassen“ wurde mit 32 Steinen umschlossen und umfangen. Es gab 2 Brunnen und 2 Backöfen, jeder 10 Schuh (2,86m) breit.

 

Bild 4 Geschichte des Monats

Nordhausen sieht auf der Primärkarte von 1835 fast gleich aus wie auf der ältesten Karte von 1765.

 

Die gesamte Markung wurde von Feldmesser Johann Stahl aus Hohenhaslach im Beisein der Untergänger von Hausen und von Nordheim mit 86 Markungssteinen abgegrenzt bzw. markiert. Jeder Stein ist mit Standort im Protokoll von 1705 beschrieben.

 

Bild 5 Geschichte des MonatsBild 6 Geschichte des MonatsBild 7 Geschichte des Monats

Markungsgrenzsteine von Nordheim, Nordhausen und Hausen.

 

Die Steuern aus den Nordhausener Gütern hatten die Altbesitzer aus Nordheim und aus Hausen zu tragen, da die Regierung den Waldensern Steuerfreiheit zugesichert hatte. Die Folge davon war, dass die Steuerschuld von Nordheim immer mehr anwuchs. In mehreren Bittschriften und Resolutionen schon ab 1701 sowohl an die Lehensherren (z.B.Kloster Schöntal) und an die herzogliche Regierung in Stuttgart ging es um die Rückgabe oder einen Ersatz für die „denen Schöntaler Gültleuten zu Nordheim entzogenen bishero öd gelegenen und den sogenannten Waldensern zu bauen überlassenen Gültgütern“. Wegen verschiedener Steuern und Abgaben wurde die Notlage der Gemeinde seit dem Franzoseneinfall 1693 geschildert. Als einer von mehreren Gründen für diese Notlage wird dabei auch der Verlust der Güter durch die Ansiedlung der Waldenser aufgeführt. Man bat schließlich um Erlass oder Minderung der bis zum Jahr 1727 auf 15000 Gulden angewachsenen Steuerschuld. Die als ungerecht empfundene Steuerlast für die Güter der Waldenser wird dabei für 15 Jahre mit 1700 Gulden angegeben. Der Herzog lehnte ein Entgegenkommen ab, was für das Verhältnis zwischen den beiden Nachbargemeinden vermutlich nicht gerade förderlich war.

 

Bild 8 Geschichte des Monats

Der Schöntaler „Keller“ (=Verwalter) war beim Vogt in Brackenheim und berichtete danach:
„Die Northeimer wollen sich aber nit abtreiben lassen, sondern wollen ihre güther Entwed behalten, od bezahlt haben, od soviel andre dageg auf Ihrer Marckhung haben“.

 

Urkundlich erscheint der Name „Northausen“ erstmals am 15.2.1704 (A 240/197), der Name ist eine Zusammensetzung aus Nordheim und Hausen. Die Gemeinde zeigte im Laufe ihrer Geschichte lange Zeit nur ein geringes Wachstum. Die Einwohnerzahl blieb über viele Jahre konstant zwischen 200 und 300. Erst um 1820 überschritt man die Schwelle zu über 300 Einwohnern. Und nur durch die Zuwanderung der Heimatvertriebenen nach dem II. Weltkrieg überschritt man 1946 die 400er-Marke mit inzwischen 404 Personen. Heute leben in Nordhausen bei insgesamt 1565 Einwohnern 175 Menschen aus 27 verschiedenen Nationen.

 

Bild 9 Geschichte des Monats

Typische Waldensernamen findet man auch heute noch in der Einwohnerschaft von Nordhausen. Hier einige Beispiele aus der Grabsteinsammlung im Friedhof, von links:

Conte, Clapier, Salen, Piston und Castagne.

 

Ulrich Berger

 

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