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Mitteilungsblatt Nordheim

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Geschichte des Monats Juli 2020

Erfasst von: Redaktion, DS | 09.07.2020 – 16.07.2020

Die Auswandererfamilie Johann Gottfried Widenmeyer

(Fortsetzung der Familiengeschichte vom letzten Monat)

Die Geschichte der 1819 ausgewanderten Familie des Nordheimer Bürgers Johann Gottfried Widenmeyers und seiner Nachkommen ist historisch interessant und persönlich tragisch. Nachdem 1815 Friedrich I. jedem Untertanen das Recht zur Auswanderung zugestanden hatte, kam es bald darauf zur ersten größeren Auswanderungswelle im 19. Jahrhundert. Die Gründe waren meist wirtschaftlicher, manchmal auch religiöser Art. Das „Jahr ohne Sommer“ 1816 mit Ernteausfall, Nahrungsmittelknappheit, Teuerung und Arbeitslosigkeit war genug Grund, das Land zu verlassen und nach neuen Möglichkeiten Ausschau zu halten. Eine bessere Zukunft für sich und seine Kinder suchte 1819 auch der damals 43-jährige Nordheimer Johann Gottfried Widenmeyer. 1804 hatte er Maria Margaretha Rohr aus Neipperg geheiratet. Das jüngste Kind der Familie, Wilhelm, wurde im Jahr der Auswanderung (23.3.1819) geboren. Das älteste Kind Johann Gottfried wurde am 2.Mai 1819 noch vor der Abreise in Nordheim konfirmiert. Von sieben Kindern waren noch sechs am Leben und zogen mit den Eltern hinaus in die fremde Welt. Die Sammelstelle für Auswanderer nach Russland war in der Regel Ulm. Dort sammelten sich nicht nur Menschen aus Württemberg, sondern auch aus dem Unterelsass, Rheinbayern und aus Baden. In Ulm bestiegen sie das Schiff und fuhren die Donau hinunter über Wien, Budapest, Belgrad, Galatz (heute Galati) bis ans Schwarze Meer. Als Transportmittel dienten Flöße oder die sogenannten „Ulmer Schachteln“, das waren Schiffe, die nur in Einmalfahrt flussabwärts benutzt wurden.

 

Aus diesen Auswanderern gen Osten bildeten sich die Volksgruppen der Bessarabien-, Dobrudscha- und Schwarzmeerdeutschen. Manche wählten allerdings auch den Landweg über Wien und durch die Karpaten, was aber sehr beschwerlich und nicht gerade ungefährlich war. Die Familie des Nordheimers Gottfried Widenmeyer kam jedenfalls vollzählig auf der Insel Krim an und ließ sich in Neusatz (heute Krasnogorskoe) nieder.

Wer aus Württemberg auswandern wollte, musste sein Staatsbürgerrecht sowie sein lokales Bürgerrecht aufgeben, was in einer Urkunde vom Schultheißen und vom Oberamt bestätigt wurde. Mit eingeschlossen waren Ehefrau und Kinder. Außerdem mussten zwei Gläubiger benannt werden, die für eventuell noch auftauchende Verbindlichkeiten gerade stehen. In der Regel waren das die Eltern oder Geschwister.

Eine Auswanderung war mit nicht unerheblichen Kosten verbunden. Die Reise musste finanziert, die Verpflegung über einen längeren Zeitraum sichergestellt werden. Außerdem benötigte man Startkapital zum Erwerb von Baumaterial, Werkzeugen und Vieh am neuen Ort. Im Gemeindearchiv lässt sich durch Eintragungen im Steuer- und Güterbuch und im Verkaufsbuch nachvollziehen, dass Widenmeyer von 1818 bis Anfang 1819 Äcker, Weinberge und Gebäude verkauft hat um genügend Grundkapital für diesen Schritt zu haben. Das Wohnhaus, das er 1818 verkaufte, lag in der Wassergasse und war bereits der dritte Wohnplatz der Familie. Der Eintrag im Güterbuch lautet:

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Welche Reiseroute das Ehepaar Widenmeyer 1819 „nach Kaukasien“ gewählt hat, kann nur vermutet werden. Auch ist unklar, weshalb im Nordheimer Familienregister „Kaukasien“ als Auswanderungsziel angegeben ist. Angekommen ist die Familie jedenfalls auf der Insel Krim im Dorf Neusatz. Neusatz wurde um 1806 gegründet, u.a. von 27 Familien aus Württemberg. Das Dorf liegt östlich der Stadt Simferopol am nördlichen Hang des Krimgebirges, an der Westseite eines Berges, an dessen Fuß sich ein Bach entlangzieht. Dieser Bach trieb eine Mühle an und diente zur Bewässerung von Gärten, Äckern und Wiesen. Das Land war fruchtbar, der Kartoffelanbau wurde erfolgreich betrieben und viele Bauern besaßen einen eigenen Brunnen im Hof. Warum Widenmeyer sich ausgerechnet in Neusatz und nicht in einer der anderen der neuen Kolonien niederließ, ist nicht bekannt. Ein weiteres Kind der Familie wurde in Neusatz geboren. Alle sieben Kinder fanden auf der Krim Ehegatten und heirateten in den Jahren 1829-1839. Der Name Widenmeyer wurde nun in Neusatz zahlreich. Den fünf Söhnen von Johann Gottfried Widenmeyer wurden insgesamt 34 Kinder geboren, darunter waren 20 männliche Nachkommen, also Namensträger. Es ist schwer vorstellbar, dass in diesem noch jungen Dorf so viel Siedlungsfläche vorhanden war, dass auch die zweite und dritte Aussiedlergeneration eine wirtschaftliche Existenz an diesem Orte haben konnte.

Bei der Untersuchung der beiden Spätaussiedlerfamilien, welche 1990 zurück nach Deutschland kamen und 2018 unabhängig voneinander in Nordheim nach Familienunterlagen anfragten, führen die Spuren zu zwei Söhnen des ausgewanderten Nordheimers Johann Gottfried Widenmeyer: Georg Balthasar (*1807) und Christoph Friedrich (*1809). Dass diese beiden Rückkehrer--Familien, von denen aktuell die eine Familie im Linzgau zwischen Donautal und Bodensee, die andere im Westerwald wohnt, einander nicht mehr kennen und sich völlig aus den Augen verloren haben, hat verschiedene Gründe:

Erstens: Der gemeinsame Vorfahre der beiden Spätaussiedlerfamilien ist der Auswanderer Johann Gottfried Widenmeyer. Doch dann trennt sich die Linie bei dessen Söhnen, die Familie aus dem Linzgau geht zurück auf Georg Balthasar Widenmeyer (*1807). Die Familie aus dem Westerwald geht zurück auf Christoph Friedrich Widenmeyer (*1809). Das bedeutet, die Ur-Urgroßväter waren Brüder, die Urgroßväter demzufolge Vettern. Wer kennt heute noch seine (insgesamt 8) Urgroßeltern- oder darüber hinaus noch deren Vettern?

Zweitens: Vermutlich reichte die landwirtschaftlich nutzbare Fläche irgendwann für die Neuansiedler und deren Nachkommen in Neusatz nicht mehr aus. Es wurden Nachbarsiedlungen gegründet und neues Siedlungsgebiet gesucht und urbar gemacht. Durch diese Tatsache und natürlich auch durch Heirat in andere Dörfer kam es zu Ortswechseln. Von Georg Balthas Widenmeyer(*1807) ist bekannt, dass er 1848 seine Grundstücke in Neusatz verkauft hat. Die acht Kinder seines Sohnes Karl (*1848) kamen alle in Tali-Ilak zur Welt, das liegt ein ganzes Stück nordwestlich von Neusatz entfernt. Dieser Karl Widenmeyer ist der Urgroßvater des Spätaussiedlers aus dem Oberschwäbischen.

Die andere Spätaussiedlerfamilie aus dem Westerwald geht auf den Bruder von Georg Balthasar zurück, auf Christoph Friedrich Widenmeyer (*1809). Dessen Sohn Ursus Emmanuel (*1851) lebte in Eigenfeld (Totanaj), das liegt nördlich von Neusatz und nordöstlich von Tali-Ilak. Alle seine sieben Kinder sind dort geboren. Ursus Widenmeyer ist der Urgroßvater der Familie aus dem Westerwald.

 

Drittens: Das 20. Jahrhundert brachte durch die politischen Umwälzungen und die beiden Weltkriege schreckliche Zeiten für alle Russlanddeutschen. Beide hier untersuchten Widenmeyer-Familienzweige mussten in dieser schlimmen Zeit Deportation, Zwangsumsiedlung und den Tod von Angehörigen erleiden. 1929 begann die Zwangskollektivierung der selbständigen Bauernwirtschaften, verbunden mit der Enteignung der Bauern und ihrer Verbannung nach Kasachstan und in den Hohen Norden. 1930 wurde der wohlhabende Bauer Friedrich Widenmeyer, der 1889 geborene Sohn von Karl Widenmeyer aus Tali-Ilak, in den Nordural verbannt, wo er auch starb. 

 

 

In den Jahren 1937/38 verurteilte die sowjetische politische Strafjustiz 1.372.382 Personen, von denen 681.692 erschossen wurden. Darunter auch Bernhard Widenmeyer (*1886 in Eigenfeld/Totanaj), der Sohn von Ursus Widenmeyer. Er wurde am 28.5.1938 verhaftet, am 1.10.1938 zum Tode verurteilt und noch am gleichen Tag erschossen. Sein Eigentum wurde beschlagnahmt (er besaß 8 Pferde, 2 Kühe, 3 Schweine, 45 Hektar Feld, Stall, Scheune usw.). 1957 wurde das Urteil aufgehoben und Bernhard Widenmeyer rehabilitiert. Seinen Bruder Leonard ereilte dasselbe Schicksal, auch er wurde 1957 rehabilitiert. Man schätzt, dass diese Aktion „Großer Terror“ etwa 55.000 Deutschen das Leben kostete.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Gleich nach Beginn des Deutsch-Sowjetischen Krieges am 20. August 1941 ließ Stalin noch vor Eintreffen der deutschen Wehrmachtsverbände aus Furcht vor einer Kollaboration mit dem Feind (dem Deutschen Reich) fast 53.000 Volksdeutsche von der Krim vertreiben. Sie mussten in Eile das Nötigste zusammenpacken und wurden, zusammengepfercht in Viehwaggons, hauptsächlich nach Kasachstan transportiert. Aus Unterlagen geht hervor, dass weitere Mitglieder der hier zu betrachtenden Familienzweige1941 zwangsumgesiedelt wurden und erst Ende1955 aus diesen speziellen Siedlungen wieder entlassen wurden. Zwangsarbeit, Hunger und Erniedrigungen aller Art mussten erduldet werden. Dass sich Menschen in diesen wirren Jahren aus den Augen verloren haben, ist nicht verwunderlich. Vor rund 200 Jahren zogen Auswanderer in das Zarenreich mit dem Ziel, ein besseres Leben für sich und ihre Kinder zu finden, was zunächst auch zu gelingen schien. Doch schon ab den 1870er Jahren kippte die Entwicklung und die meisten Privilegien der Kolonisten wurden aufgehoben. 1874 wurde die Wehrpflicht für Kolonisten eingeführt, was zu einer Welle von Auswanderungen in die USA und nach Kanada führte. Zunehmend fürchteten die Einheimischen die Gefahr einer Germanisierung, die Autonomie der Russlanddeutschen wurde immer mehr eingeschränkt. Dann kamen die Wirren der Politik des 20. Jahrhunderts mit dem Ersten Weltkrieg, der russischen Revolution und der Zweite Weltkrieg. Diese Entwicklung zerstörte alle Zukunftsaussichten der Deutschen in Russland. Vier Generationen nach der Aussiedlung ihrer Vorfahren waren die meisten gescheitert und ruiniert. Der von Hitler angezettelte Krieg gegen Russland, der etwa 27 Millionen Russen das Leben kostete, machte sie dort zum Gegenstand des Hasses. Ihre deutschen Wurzeln haben diese Menschen im fremden Land, ihrer vermeintlichen Heimat, zu Feinden gemacht. Eine Perspektive für ein selbstbestimmtes Leben in Würde und Freiheit in der Sowjetunion gab es für diese deutschstämmigen Menschen nicht mehr. Für eine Ausreise aus der Sowjetunion gab es aber in den ersten zwanzig Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kaum Chancen. Erst die Reformen der 1990er Jahre unter Gorbatschow machten Ausreisen in die Bundesrepublik Deutschland in größerer Zahl möglich. Von 1990 bis Ende 2004 sind insgesamt rund 2,5 Millionen Menschen als Aussiedler oder Spätaussiedler aus der Sowjetunion bzw. ihren Nachfolgestaaten nach Deutschland eingereist. Darunter waren auch die beiden Widenmeyer-Nachfahren mit ihren Familien, die den Anlass zu dieser Geschichte gegeben haben indem sie nach ihren Nordheimer Vorfahren suchten.                                  

 

 

Ulrich Berger

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