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„Geschichte“ des Monats November:

Erfasst von: Widenmeyer stillgelegt, Lisa | 06.11.2018 – 20.11.2018

Ein Dachziegel von 1807 erzählt seine „Geschichte(n)“

 

Auf dem Dachboden eines Hauses in der Schwaigerner Straße wurde ein interessanter Dachziegel gefunden, der viel erzählen kann, aber auch viele Fragen aufwirft. Der Ziegel war früher in Biberschwanzdeckung auf einem Hausdach verbaut, was Moos- und Flechtenbewuchs vor der Reinigung des Objektes bewiesen.

 

 

Dachziegel mit vierzeiliger Inschrift aus dem Jahr 1807

(Inschrift im Foto nachgezeichnet)

 

Die Beschriftung ist nicht ohne Weiteres lesbar, aber durch seitliche Beleuchtung und entsprechender Schattenbildung an den Schriftkanten lässt sich auf Fotos die Schrift entziffern. Die Inschrift lautete, querliegend die Jahreszahl 1807, daneben in vier Zeilen:

 

 

Jonatan Eber-

bach Sekler

frische Damfnu

del Schwab-

 

 

 

Alte Dachziegel mit Inschriften, Verzierungen, Symbolen, Ornamenten usw. werden allgemein als „Feierabendziegel“ bezeichnet und sind heute ein begehrtes Sammelobjekt. Die Inschriften können Scherzsprüche, Abwehr- oder Segenssprüche sein, ebenso haben eingeritzte Symbole ähnliche Bedeutung.

 

 

 Beispiele für „Feierabendziegel“

Ziegel links am Rand mit „Hexenbesen“, rechts mit stilisiertem Lebensbaum

 

Die Ziegel einer Tagesproduktion wurden in der Regel alle glatt verstrichen, für verzierte Dachziegel in größerer Stückzahl wäre der Aufwand zu groß gewesen. Die verzierten oder beschrifteten Ziegel wurden meist erst nach Feierabend hergestellt, daher auch der Name „Feierabendziegel“. Ein beliebtes Ziermotiv war u. a. das Sonnenmuster, oft auch als Halb- oder Viertelsonne eingeritzt. Diese Verzierung wurde auch als „Hexenbesen“ bezeichnet und sollte als Schutz gegen böse Geister oder Zauber dienen.

Was kann man nun aus dieser seltsamen Inschrift des Ziegels aus der Schwaigerner Straße herauslesen, was sind Fakten und welche Fragen tauchen auf?

 

Frage 1: Wer ist mit „Jonatan Eberbach“ gemeint?

Nachforschungen haben ergeben, dass Jonathan Eberbach aus Lauffen stammt und dort 1775 geboren ist. 1807 war er 32 Jahre alt, von Beruf war er „Sekler“, geheiratet hat er 1798 und seine Frau stammte aus Kochersteinsfeld. 1832 ist Jonathan Eberbach gestorben.

 

 

Quelle: Familienbuch PA Lauffen, Bd. 33, f.162

 

Frage 2: Was ist ein „Sekler“?

So nannte man früher einen Beutelmacher, einen Handwerker, der Lederwaren wie Taschen, Riemen, Beutel („Säckler“) usw. herstellte.

Es ist möglich, dass er während der Ziegelsaison, diese dauerte von Ende März bis Anfang November, in einer Lauffener Ziegelei gearbeitet hat und ein Kollege ihm diesen Spott- oder Scherzvers gewidmet hat. Doch warum wird er als „Dam(p)fnudel“ bezeichnet? Waren Dampfnudeln einfach nur seine Lieblingsspeise?

 

Frage 3: Was bedeutet die Bezeichnung „Dampfnudel“ für eine Person?

Dieses Scherzwort benutzte man früher als Bezeichnung entweder für eine ziemlich dicke Person – oder aber auch für einen Menschen, der sich „aufgeblasen“ verhielt, also ein Angeber oder Aufschneider war. Da besagter Jonathan Eberbach aber ein ziemlich zänkisches Eheweib hatte, ist kaum anzunehmen, dass er sich nach außen als Angeber zeigte. Mehrfach forderte er die Scheidung von seiner Frau, konnte sich aber nicht durchsetzen. Ein Verhandlungsprotokoll vom 6.10. 1820 gibt einen Eindruck von seiner Situation:

Jonathan Eberbach, Sekler dahier, wird, nachdem er wiederholte Klagen wegen seiner Ehefrau, Maria Magdalena geb. Domayer v. Kochersteinsfeld, vorgebracht hat, vor Kirchenconvent citirt, und erklärt, er könne unmöglich mit ihr länger hausen, weil er seines Lebens bei ihr nicht mehr sicher sey; er wolle lieber sterben als nachgeben, Gott und alle seligen Geister würden es ihm übel nehmen, wenn er länger bey ihr bliebe, sie sey bald mit dem Beil, bald mit dem eisernen Rechen, bald mit dem Messer auf ihn los gegangen; wenn ihn Gott nicht mit höheren Gaben geziert hätte, so wäre es ihm gegangen wie seiner Schwester, die 7 Jahre ausgezehrtt sey. Auf die Versicherung, es scheine, daß er diese Dinge selbst nicht glaube, u. sie nur als Vorwand brauche, betheuert er seine vorige Aussagen. Auf die Frage, was für Gründe seine Frau habe, ihn zu mißhandeln, erklärt er, sie thue es ohne Ursache. Gottfried Kraft wird als Zeuge aufgerufen, er bezeugt, die Frau des Eberbachs bei Nacht in der Kammer mit einem Messer in der Hand gesehen zu haben, während beide mit einander zankten; weiter wisse er nichts, sonst habe er als Nachbar sie öfters schon schreyen und toben gehört. Eberbach sagt, seine Frau habe ihm 2 Stubenthüren u. eine Kellerthür zusammengehauen; sie habe ihm den Kleiderkasten aufgerissen, u. ihm die Quittungen, die er darin aufbewahrt, zerrissen. Er beharrt, aller Ermahnungen ungeachtet, auf dem Verlangen der Scheidung …

Jonathan Eberbach starb 1832, seine Frau 1840. Eine Scheidung scheint nicht erfolgt zu sein.

 

Frage 4: Wie kommt ein (Lauffener) Ziegel aus dem Jahr 1807 auf ein Haus in der Schwaigerner Straße in Nordheim, das 1811 erbaut wurde?

Diese Frage lässt sich nicht sicher beantworten, da bewegt man sich im Bereich von Vermutungen. Zwei Möglichkeiten scheinen wahrscheinlich:

Das Gebäude Nr. 10 (früher 161) in der Schwaigerner Straße war im Jahr 1811 eines der ersten Häuser, das nach dem Ortsbrand Ende Dezember 1810 neu gebaut wurde. Das Haus der Witwe Agnes Maria Schweikert hinter der Kirche am Dorfgraben war abgebrannt. Alle Brandgeschädigten waren arm und in einer existenziellen Notsituation. In einer solchen Lage wurde jeder Ziegel, jeder Stein und Balken, der noch einigermaßen heil geblieben war, als Baumaterial wiederverwendet, um Kosten zu sparen. Es könnte möglich sein, dass dieser Dachziegel vorher auf einem der abgebrannten Gebäude war und nun 1811 in der Schwaigerner Straße in Zweitverwendung verbaut wurde. Da es in Nordheim damals keine Ziegelei gab, in Lauffen aber schon, könnte ein solcher Ziegel aus dem Jahr 1807 durchaus auf einem Nordheimer Dach, sei es Neubau oder Instandsetzung, verbaut gewesen sein.

Eine andere Möglichkeit ergibt sich dadurch, dass die Bauherrin Agnes Maria Schweikert einen Zimmermann aus Lauffen beschäftigt hatte. Im Zusammenhang mit einer Kreditaufnahme 1813 gibt sie an, dass Zimmermann Dem(m)ler aus Lauffen auf die Bezahlung seiner Rechnung dränge.

 

 Abschrift:     da sie auch

                        unter den BrandVer

                         unglükten sich befinde

                        und sie durch die

                        Erbauung Haus &

                        Scheuer sich in etwas

                        in die Schulden habe

                        steken müssen und

                        daher von dem Zimmer-

                        mann Demler in Lauffen

                        der Zahlung wegen

                        sehr gedrängt werde …

 

Ausschnitt aus einem Protokoll vom 2.11.1813

 

Möglich wäre es, dass Demmler diesen Ziegel 1811 aus Lauffen mitbrachte, um das Dach einzudecken, aber dann wäre dieser Ziegel bereits gebraucht gewesen. Üblicherweise arbeiteten die Ziegeleien nicht auf Vorrat, sondern auf Bestellung. Es ist unwahrscheinlich, dass der Ziegel vier Jahre nutzlos gelagert wurde, um dann 1811 Verwendung zu finden. Deshalb scheint die erstgenannte Variante wohl die realistischere zu sein.

Das Dach des Hauses, auf dessen Dachboden dieser Ziegel gefunden wurde, ist längst mit Falzziegeln eingedeckt. Die einst zugehörige Scheune wurde zum Wohnhaus umgebaut. Es hat sich viel verändert seit der Erbauung 1811. Warum aber irgendwann bei einer Umbaumaßnahme ein interessierter Zeitgenosse diesen Ziegel nicht wegwarf, sondern auf dem Speicher beiseitelegte, wissen wir nicht.

                                                                                                                                               Ulrich Berger

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