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Mitteilungsblatt Nordheim

Neues aus Nordheim und Nordhausen (Archiv)

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„Geschichte“ des Monats Juni:

Erfasst von: Widenmeyer stillgelegt, Lisa | 14.06.2018 – 28.06.2018

Der Fuhrmannsbaum - eine „sagenhafte“ Nordheimer Geschichte

 

Die Bezeichnung „am Fuhrmannsbaum“ ist manchen älteren Nordheimer noch ein Begriff. Er bezeichnet eine bestimmte Stelle auf Nordheimer Markung am früheren Weg nach Hausen, heute hinter dem Schützenheim gelegen am Zufahrtsweg zum Anwesen der Familie Buchwald auf dem „Wannenberg“.

 

 

Im Gegensatz zu den Bezeichnungen „Beim Bettelbaum“, „Beim Breitenbaum“, „Beim Kirschbaum“ ist der Name „Fuhrmannsbaum“ nirgends schriftlich festgehalten. Er weist darauf hin, dass es an dieser Stelle um einen Baum und um eine Person geht, nämlich um einen Fuhrmann. Außerdem lässt die Bezeichnung darauf schließen, dass es in der Vergangenheit an dieser Stelle ein besonderes Ereignis gegeben haben muss. Um diese Begebenheit gab es in Nordheim eine mündlich überlieferte Geschichte, die erstmals 1913 vom damaligen Schulleiter Johann Christoph Mak in Form einer Volkssage niedergeschrieben und in der Zeitschrift des Zabergäuvereins veröffentlicht wurde (Heft 3/1913, S.37f). Eine Volkssage ist eine volkstümliche Erzählung, die mit einem gewissen Wahrheitsanspruch versucht, bestimmte Geschehnisse, Namen, Lokalitäten, Geländebesonderheiten usw. zu erklären. In einer echten Sage steckt deshalb meist ein historischer Kern, der aber über die oft jahrhundertelange mündliche Überlieferung verfremdet und verfälscht wurde. Um sie wahrhaft erscheinen zu lassen, wurden Sagen oft mit genauen Orts- oder Zeitangaben versehen. So auch in der detailreich ausgeschmückten Erzählung von Mak, die eher einer Novelle gleicht:

 

Südlich von Nordheim am Feldwege nach Hausen a. Z. steht auf der Höhe des Wannenbergs, weithin sichtbar, das Fuhrmannsbäumchen. Das jetzige Geschlecht kennt den Namen wohl, nicht aber dessen Ursprung. (Der ursprüngliche Fuhrmannsbaum ist längst abgegangen und ein junger steht an dessen Stelle; der Name ist geblieben). Von diesem wird erzählt:

 

Es war am heiligen Abend des Jahres 1696. Die Wolken hingen schwarz und schwer über der grauen Erde; ein rauher Westwind fuhr durch die kahlen Wipfel der Bäume. Die Menschen suchten Schutz in den bergenden Häusern. Nur das Krächzen hungernder Raben wurde gehört. Endlos goß der Regen auf die Erde und machte die ohnedies schlechten Fahrwege (Straßen gab es nicht) vollends grundlos. Es fing schon frühe an zu dunkeln. Da fuhr ein Fuhrmann auf dem aufgeweichten Wege durch Nordheim, um eine Fuhre Wein gen Bietigheim zu fahren….

 

…..Die Pferde bringen trotz Fluchens und Schlagens die Last nicht mehr von der Stelle.

In ohnmächtiger Wut ruft der Fuhrmann: „Der Teufel soll euch holen!“ Kaum ist das böse Wort den zornbebenden Lippen entfahren, als die Pferde ängstlich die Köpfe zusammenstrecken, sich aufbäumen und anfangen zu zittern. Der Wagen kommt dadurch ins Gleiten; er reißt die Pferde mit. Wild packt der Fuhrmann sein Handpferd am Zaume, um es vorwärts zu reißen. Es gibt kein Halten mehr. Unaufhaltsam rutscht der Wagen die steile Höhe hinab, Mann und Pferde mit sich reißend. In tollem Laufe geht es geradewegs dem unheimlichen See zu. Ein fürchterlicher Schrei des Fuhrmanns tönt durch die Luft und ein gellendes Hohngelächter antwortet. Hoch spritzt das Wasser auf, und Ladung, Mann und Pferde sind verschwunden….

 

Kern dieser Sage ist, dass vor Jahrhunderten ein Fuhrmann zwischen Nordheim und Hausen tödlich verunglückte und in einem See versank. Der „Fuhrmannsbaum“ hinter dem Schützenheim trägt seinen Namen nach dieser alten Begebenheit. Der Baum ist zwar verschwunden, eine Baumgruppe existiert aber heute noch an der vermutlichen Unfallstelle am Weg Richtung Hausen. Dieser ehemalige Weg nach Hausen führt heute noch vorbei am Schützenheim hoch auf den Wannenberg. Den in der Sage erwähnten See muss es im Breibachtal vor langer Zeit wirklich gegeben haben. Sichere Hinweise darauf sind Flurnamen wie Seewiesen, Seeäcker, und See. Sogar den Begriff „Seedamm“ findet man in alten Schriften mit Bezug zu dieser Lage.

 

 

Beim Fuhrmannsbaum                                        Blick vom Fuhrmannsbaum

Ein fast unglaublicher Zufall brachte 2004 Licht in das Dunkel dieser alten Geschichte und konnte den historischen Kern dieser Geschichte erklären und bestätigen:

Bei der Beerdigung von Hilde Häberle geb. Lang (Hilde Häberle ist die Hauptperson in dem Buch „Hilde, Sonntagskind“ von Walter Häberle) im Jahr 2004 in Unterweissach traf das Ehepaar Emma und Werner Michelbach aus Nordheim einen entfernten Verwandten aus der Ulmer Gegend. Dieser erzählte ihnen, dass er bei Nachforschungen zu seiner Familiengeschichte festgestellt habe, dass ein Vorfahre von ihm vor langer Zeit in der Gegend von Nordheim als Fuhrmann tödlich verunglückt sei. Bei einem späteren Treffen legte dieser Mann eine Fotokopie eines Textes aus den Kirchenbüchern von Neenstetten vor. Der nicht ganz leicht zu lesende Text aus dem Jahre 1632 konnte mit freundlicher Unterstützung von Dr. Otfried Kies vollständig entziffert werden und hat folgenden Inhalt:

 

 

Thomas Wieland, æt. 31. NB. Unglücksfall

 

Thoman Wieland, Nach dem Er den 30. Aprilis

frisch und gesundt von Haus auß nach Weine mit einem

Karren ausgefahren, und zu Grosen Gartten geladen, und widerumb

heimzufahren willens gewesen, und da er zwischen Norttheim und

Hausen ongeverdt ein Stundt von Brackenen komen, der Karr da-

rauff zwey Feßer gelegen, umbgefallen, und in getroffen, Er darauff

bald in einer Viertheil Stundt auff der Straßen, in dem Arm seines

Bruders Mattheißen Wielanden, Gastgeb zu Weidenstetten, seliglich

entschlaffen, und in gemelten Fleckhen hinein gebracht, und zu Hausen

mit grosem Mittleiden der gantzen Gemein begraben, und mit einer

Christlichen Leicht Predig zur Erden bestetiget, welches geschehen ist Donner-

stag den 3. Maii zwischen 5 und 6 Uhr Abendts. Und folgenden Frey-

tag zwischen 11 und 12 Uhren der Erden befolhen worden. Ist ein fromer

Gottsforchtiger Man gewesen, der Gottes Wort lieb gehabt, fleissig

in der Bibel und andern Geistlichen Büchern gelesen. Seines Alters

31 Jar. Hat gar im Ehstand gelebtt biß auff Petri und Pauli 2 Jar.

Dem Gott gnedig und Barmhertzig sein welle. Und ime und uns

allen zu seiner Zeit ein fröliche Auffersteheung geben wölle. Amen.

 

Anmerkung: Neenstetten liegt auf der Ulmer Alb an der Straße zwischen Amstetten und Langenau, etwa 10 km westlich von Langenau auf der „Altheimer Ebene“ und hat etwa 820 Einwohner, Weidenstetten ist ein Nachbarort westlich von Neenstetten. Der Bruder des Verunglückten betrieb dort eine Wirtschaft mit Übernachtungsmöglichkeit („Gastgeb“).

 

In seinem Heimatort Neenstetten wurde dieser Unglücksfall vom Pfarrer ins Totenbuch eingetragen, obwohl der Verunglückte dort nicht beerdigt wurde. Wenn der Text sprachlich auch etwas schwierig zu lesen ist, kann man den Inhalt dennoch verstehen. Natürlich gibt es inhaltliche Abweichungen und Widersprüche zu oben genannter Sage vom Fuhrmannsbaum, jedoch weist der Kern der Unfallgeschichte große Übereinstimmung mit der Sage auf:

Ein Fuhrmann mit einer Fuhre Wein verunglückte im 17. Jahrhundert zwischen Nordheim und Hausen tödlich. Sowohl in Nordheim wie auch in Hausen fehlen die Kirchenbucheintragungen aus diesen Jahren des Dreißigjährigen Krieges. Deshalb ist es nahezu sensationell, dass 372 Jahre nach diesem Ereignis durch Zufall nun dieser Bericht aus dem Jahre 1632 aufgetaucht ist. Wir wissen nun, dass ein 31-jähriger Fuhrmann namens Thomas Wieland aus Neenstetten mit zwei in Großgartach (heute Leingarten) geladenen Weinfässern zwischen Nordheim und Hausen „den 3. Maii zwischen 5 und 6 Uhr Abendts“ tödlich verunglückte, weil sein „Karren“ mit den Fässern umkippte und er dabei erschlagen wurde. Er verstarb im Arm seines Bruders und wurde in Hausen beerdigt. Diese Geschichte wurde über Jahrhunderte weitererzählt, dabei verändert, mit Details versehen und ausgeschmückt, um sie glaubhaft erscheinen zulassen. Das Ergebnis dieser Jahrhunderte alten mündlichen Überlieferung ist die bekannte Sage vom Fuhrmannsbaum, deren Kern und Ausgangspunkt nun aufgeklärt ist. Der Text von Mak wurde von Theodor Bolay 1931 in seine Sammlung „Sagen aus dem Zabergäu“ aufgenommen. Es ist den Lehrern Mak und Bolay zu verdanken, dass diese Geschichte nicht in Vergessenheit geriet. Inzwischen hat auch Irmhild Günther diese Begebenheit 1986 in ihr Büchlein „Zabergäu – Eine Landschaft erzählt Geschichten“ teils erzählend, teils zitierend, übernommen.

Bemerkenswert ist auch, welch weite Wege und welche Mühe die Menschen damals in Kauf nahmen, um den geschätzten Unterländer Wein herbeizuschaffen

Diese am „Fuhrmannsbaum“ im Februar 2005 vom Heimatverein aufgestellte Informationstafel ist leider bald nach ihrer Aufstellung verschwunden.

                                                                                                                                               Ulrich Berger

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