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Nordheimer Geschichte März 2024

Erfasst von: Redaktion, JJ | 12.03.2024 – 31.03.2024

Bettelfuhr und Armenhaus

Wörter in Zusammenhang mit Armut, Elend, Bettelei gibt es einige, und bei den meisten Begriffen kennt man auch zumindest einigermaßen deren Bedeutung: Bettelleut (arme Menschen), Bettel’gschwätz (unnützes Gerede), Bettelbua, Bettelmann, Bettelmanns’gschicht (unordentlicher Haushalt, auch extreme Armut oder Sparsamkeit), d’r Bettel hinschmeißen (eine angefangene unrentable Arbeit aufgeben), Bettelsack (besonders zu Kindern, die immerfort etwas erbitten). Aber wer kennt den Begriff „Bettelfuhr“ - und welche Bedeutung steckt hinter diesem Wort?

Fremd, arm und dazu noch krank zu sein, war früher schon beinahe ein Todesurteil. Schwierig war insbesondere die Situation für fremde Bettler und Arme, alte Kriegsveteranen und durchziehende Handwerksburschen, deren Lebensende nahe bzw. bereits absehbar war und die kein Bürgerrecht an ihrem aktuellen Aufenthaltsort besaßen. Diese kranken und armen Menschen wollte keine Gemeinde aufnehmen, denn auch ein verstorbener Bettler musste beerdigt werden, und das kostete ja Geld. Deshalb versuchte jede Gemeinde, solche Leute an das Nachbardorf „weiterzureichen“. Noch 1814 enthielt die Württembergische Polizeiverordnung folgende Bestimmung: Fremde, Kranke, Arme sind in der Fron von Ort zu Ort weiterzuführen, wenn es ihr körperlicher Zustand erlaubt. Dass solche Bettelfuhren auch in Nordheim tatsächlich praktiziert wurden, zeigen einige traurig-tragische Fälle aus dem hiesigen Totenbuch:

Anno 1676 ist ein junger kerle der etliche wochen lang zu Brackhenheim bey dem Cronenwürth gearbeitet und im herbst geschafft, deßen name und herkommen im übrigen hie unbekandt ist, alhier im armen hauß gestorben den 18. Oct: an einem Mittwoch zu nachts: nachdem er das fieber zu Brackhenheim bekommen, ist er von seinem meister ausgestosen wordten und nacher Dürrenzimmern kommen, und von solchen leuthen geführt wordten biß am Creuzweg, von dannen ist er von unsern leuthen ins armen hauß hereingeführt, nachgehendts ist er auch von hier wider hinweggeführt wordten nacher Klingenberg, von Klingenberg ist er gebracht wordten nacher Grosengarttach, welche ohne einige erwiesene werckh der barmhertzigkeith etl. tag wie ein hund ihne haben liegen laßen und darauf hiehero wider auf der Marckhthum geführt und halber todt liegen laßen, und es niemandt zu wißen gethun biß die leuth im feldt ihne güelfen und schreien gehört, ist er darauf wider ins armen hauß gebracht wordten und bald darauf am 18.10. gestorben. (Pfarrarchiv Nordheim, Totenbuch 1676)

In Kurzform und Klartext: Im Herbst 1676 bekam ein Arbeiter des Brackenheimer Kronenwirtes Fieber und wurde von seinem Herrn hinausgeworfen. Er kam nach Dürrenzimmern, von dort hat man ihn nach Nordheim ins Armenhaus geführt, danach von Nordheim nach Klingenberg, von dort nach Großgartach. Dort lag er einige Tage wie ein Hund, ehe ihn die Großgartacher wieder halbtot auf Nordheimer Markung verbracht haben. Dort haben ihn Leute güelfen und schreien gehört und man hat ihn wieder in das Nordheimer Armenhaus gebracht, wo er schließlich gestorben ist.

Ein anderer Fall - ein beinahe erfrorener fremder Mann starb 1735 im Armenhaus:
21.01.1735 D. 21. Januarii starb und wurde den 22ten darauff begraben ein unbekannter Mann, welcher auff der Straßen zwischen hier und Klingenberg kranck und halb erstarrt angetroffen, von einem Burgerallhier auffgeladen, und in das arme Hauß geführt worden, allwo er nach geschehener Erwarmung sich zwar ein wenig wider erholt, aber bald wider den Verstand und Sprach verlohren, nachdem er weiter nichts von sich zu erkennen gegeben, alß daß er von Hart seye.

Ein weiteres Beispiel einer „Bettelfuhr“ mit einer fremden Frau aus dem Jahr 1758:
31.12.1758 Den 31. Xbris (= Dezember) wurde ein armes Bettelweib von Grosengartach auff einem BettelKarch hieher geführt, welches nach Aussage des Baurens auff allhiesiger Marckung solle gestorben seyn, und dahero des folgenden Tages, alß am 1. Jan: 1759 auff allhiesigen Kirchhoff begraben worden, ohne zuwissen, wer oder woher dieselbe gewesen seye, weil im geringsten keine Brieffschafften bey deroselben angetroffen worden, worauß man sich ihrer Umständen einiger maßen hätte erkundigen können. Weil man aus ihren nach dem Tode noch zusamen gefalteten Händen schliessen mögen, Sie werde vor und biß ihr Ende gebetet haben, So lebt man auch der Hoffnung, Gott werde sie erhört, und ihre Seele zu Gnaden auffgenohmen haben.

Armes „Bettelweib“ am 1.1.1759 in Nordheim begraben
Armes „Bettelweib“ am 1.1.1759 in Nordheim begraben
Das Armenhaus beim Unteren Tor in der Oberen Gasse gehörte je hälftig der Kirche und der Gemeinde. 1776 wurde es an Wilhelm Friedrich Haller verkauft. Danach wurde das ehemalige „Schießhaus“ an der Schwaigerner Straße zum Armenhaus.
Das Armenhaus beim Unteren Tor in der Oberen Gasse gehörte je hälftig der Kirche und der Gemeinde. 1776 wurde es an Wilhelm Friedrich Haller verkauft. Danach wurde das ehemalige „Schießhaus“ an der Schwaigerner Straße zum Armenhaus.

Ein klein helftiges Haüßlen,
so zu einem armen Haus

gebraucht wird, in der oberen

Gassen, zwischen Hans Jerg

Hornen Wittib und der all-

mand, stoßt oben und unten

auff den Weeg u.

steht nicht in der Tabell.

(GB 6, f. 162)

Wer Glück hatte, wurde im Armenhaus (auch Bettelhaus genannt) untergebracht. Sei es für kurze oder längere Zeit - oder einfach nur um dort zu sterben. Zeitweise wohnte auch der Gemeindhirte in diesem Häuschen. Das Armenhaus gehörte der Kirche (dem Heiligen) und der Gemeinde je zur Hälfte. Es stand in der Oberen Gasse und wurde 1776 verkauft. Danach wurde das Schießhaus außerhalb des Ortes Richtung Schwaigern als Armenhaus verwendet. 1948 wurde dieses Gebäude zu einem zweistöckigen Wohnhaus umgebaut.

Immer wieder war das Armenhaus die letzte Station eines notleidenden Menschen:
08.08.1711 Matthäus Stramberger, von Neußlingen in dem Anspachischen gebürtig, wie die nach seinem Tod bey ihm gefundenen briefe außgewisen, wurde im armen hauß, weil es damal lär stunde, und der hirt, der es bewohnet, weggezogen, tod gefunden, daß kein mensch im gantzen flecken wußte wie Ihme gegangen, Er auch sich umb keine beystewer auß dem Heiligen angemeldet, und den tag hernach, als den 9. Augusti, unter dem geläut einer Glock auff den Kirchhoff begraben.

Das „Armenhaus“ in der Schwaigerner Straße vor dem Umbau 1948
Das „Armenhaus“ in der Schwaigerner Straße vor dem Umbau 1948

Das ursprüngliche Armenhaus befand sich in der Oberen Gasse und wurde 1776 verkauft. Danach wurde das Schießhaus in der Schwaigerner Straße als Armenhaus genutzt. 1855 waren 5 Familien in diesem Haus untergebracht.

1948 wurde das Gebäude von der Gemeinde um ein Stockwerk erhöht und anschließend vermietet.

Über einen weiteren Einsatz des Bettelkarrens wird aus dem Jahr berichtet, in dem unser Pfarrhaus erbaut wurde: Am 3. December 1763 gestorben, am 4. begraben Isidorus Blandner, von Neuburg an der Kammel gebürtig, welcher mit Federkiehlen, Bleystifft und Federmesser &c. gehandelt, nachdem er aber an dem Rhein kranck und hernach von seiner gottlosen Ehefrau boßhaffter Weise verlassen worden, so wurde er auf dem Bettel-Karren kranck und hieher in das Bettelhauß gebracht, wo er dann auch endlich gestorben.

Das zweite Gebäude in der Schwaigerner Straße auf der linken Seite war das Armenhaus (früher Nr. 156). Das langgezogene Gebäude Nr. 1 war der Farrenstall an der Straße nach Großgartach.
Das zweite Gebäude in der Schwaigerner Straße auf der linken Seite war das Armenhaus (früher Nr. 156). Das langgezogene Gebäude Nr. 1 war der Farrenstall an der Straße nach Großgartach.

Bis zum Umbau 1948 hatte das Armenhaus eine lange, wechselvolle und schwierige Geschichte. Oft war es überbelegt und heruntergekommen, aber es bot armen obdachlosen Menschen immerhin ein Dach über dem Kopf. Manchmal drangsalierten einzelne Quertreiber im Hause ihre Mitbewohner, und häufig war es die letzte Station im Leben eines Menschen. Insgesamt hat sich hinter diesen Mauern unendlich viel Leid und Elend abgespielt, wie den vorhergehenden Berichten zu entnehmen war.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es zunächst große Probleme mit Wohnraum in Nordheim aufgrund der zahlreichen ausgebombten Menschen aus Heilbronn und den vielen Flüchtlingen und Heimatvertriebenen. Die Gemeinde baute deshalb dieses Haus um, ebenso das Backhaus in der Wassergasse, um mehr Wohnraum zu schaffen. In dem 1948 aufgestockten Gebäude Schwaigerner Straße 5 wohnten 1950 eine Familie im Erdgeschoss und eine Familie im 1. Stock für je 300 Mark Jahresmiete. Im Dachgeschoss war ein Zimmer (mit Küchenbenutzung im ersten Stock) für 120 Mark p.a. vermietet, und ein weiteres einzelnes Zimmer im Dachgeschoss für 96 Mark im Jahr.

Schwaigerner Straße 5: Plan zur Aufstockung 1948
Schwaigerner Straße 5: Plan zur Aufstockung 1948
Beide Gebäude auf diesem Foto existieren nicht mehr, sie wurden abgebrochen.
Beide Gebäude auf diesem Foto existieren nicht mehr, sie wurden abgebrochen.

Hunger leiden muss in unserer Gesellschaft heutzutage niemand mehr. Für Menschen in Notsituationen gibt es inzwischen die verschiedensten sozialen und kirchlichen oder diakonischen Einrichtungen, vor allem in den Städten: Obdachlosenquartiere, Wärmestuben, Tafelläden, Frauenhäuser usw. Blättert man aber in den Unterlagen der Archive, so finden sich in jedem Ort aus früheren Zeiten die schlimmsten Berichte über Armut, Hunger und verschiedene dramatische Einzelschicksale. War früher jemand an den Rand der Gesellschaft geraten, wurde das Überleben schwierig. Wichtig war die Integration in die Dorfgemeinschaft. Hatte man irgendwo das Bürgerrecht, konnte man dort auch im Notfall auf Unterstützung und Hilfe hoffen. Ansonsten war man dem Wettlauf zwischen den Gemeinden ausgeliefert, und die Person wurde ohne Mitleid mit dem Bettelkarren von Ort zu Ort gekarrt, weil niemand die Beherbergung und die damit verbundenen Kosten übernehmen wollte.

In diesem Beitrag sollte daran erinnert werden, dass früher auch bei uns in Nordheim zeitweise Hunger, Not und großes Elend herrschten und der Büttel oder Amtsdiener mit dem Bettelkarren manchmal eine trostlose Arbeit verrichten musste.

Ulrich Berger

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