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Mitteilungsblatt Nordheim

Neues aus Nordheim und Nordhausen (Archiv)

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„Geschichte“ des Monats November 2017

Erfasst von: Widenmeyer stillgelegt, Lisa | 09.11.2017 – 23.11.2017

1945/46 in Nordheim:

Evakuierte, Flüchtlinge, Heimatvertriebene, Umsiedler, Neubürger, Heimkehrer

 

Am 19. November 2017 ist Volkstrauertag. An diesem Tag wird an die Menschen erinnert, die bei Kriegen oder Gewaltakten ihr Leben verloren haben. Außerdem stellt dieser Gedenktag eine Warnung vor jeder Gewaltherrschaft dar, in deren Folge Menschen ihre Heimat verloren haben. Diese in der Überschrift erwähnten Begriffe prägten und veränderten am Ende des Zweiten Weltkrieges und in den Nachkriegsjahren das Leben vieler Menschen. Die Vielzahl dieser ähnlichen Wörter macht deutlich, wie schwierig eine klare Zuordnungen, Abgrenzungen oder Definitionen war. Der Begriff „Flüchtling“ wurde als Sammelname oder Oberbegriff verwendet, der aber von vielen Heimatvertriebenen abgelehnt wurde. Sie fühlten sich als „Ausgewiesene“ und sahen sich genauso als Opfer des Krieges wie z.B. Ausgebombte.

 

Mit der bedingungslosen Kapitulation endete am 7./.8. Mai 1945 der Zweite Weltkrieg, der über 50 Millionen Menschen das Leben gekostet hatte. In der „Potsdamer Konferenz“ im Sommer 1945 beschlossen die Alliierten Mächte (Großbritannien (Winston Churchill), Sowjetunion (Jossif F. Stalin) und die USA (Franklin D. Roosevelt) die „Überführung“ (= Ausweisung) der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei, Ungarn und aus Polen, dessen Grenzen zuvor nach Westen verlagert wurden als Entschädigung für polnische Gebietsverluste im Osten. Der Alliierte Kontrollrat legte zur Ausweisung der deutschen Bevölkerung folgende Zahlen fest:

                                    aus Polen                                           3,50 Millionen

                                    aus der Tschechoslowakei            2,50 Millionen

                                    aus Ungarn                                        0,50 Millionen

                                    aus Österreich                                   0,15 Millionen

                                                                       zusammen      6,65 Millionen Menschen

 

Zu dieser Zahl sind noch etwa weitere 3,6 Millionen Menschen hinzuzurechnen, die bereits seit Oktober 1944 aus Polen und den deutschen Provinzen geflohen waren oder Opfer sogenannter „wilder Vertreibungen“ wurden. Konkret bedeutete das für unsere Gegend, dass der Stadt- und Landkreis Heilbronn zwischen 1945 und 1947 etwa 20 000 Personen zusätzlich aufnehmen musste. Die zu lösenden Aufgaben waren gewaltig. Auf allen Ebenen der Politik und Verwaltung war man um Lösungen bemüht. Es gab einen Staatsbeauftragten für das Flüchtlingswesen, ein Kreiskommissariat für Neubürger und Ausgewiesene, das Wohnungskommissariat des Kreises und die Wohnungsausschüsse in den Gemeinden usw. Erlasse, Verordnungen und Gesetze sollten die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass der benötigte Wohnraum beschafft werden konnte und es bei der Zuteilung einigermaßen gerecht zuging, sowohl für die Eigentümer als auch für die „Neubürger“. In den Gemeinden lag die Hauptlast meist auf den Bürgermeistern. Sie mussten versuchen, die ihnen fast täglich zugewiesenen Vertriebenen unterzubringen und sie bei der ortsansässigen Bevölkerung vorläufig oder dauerhaft einzuquartieren. Dazu bemerkte der damalige Landrat Hermann Sihler bei einer Dienstbesprechung der Bürgermeister am 7.11.1945 in Brackenheim: „…es wird geschimpft werden auf Sie, es wird geschimpft werden auf das Landratsamt und es wird geschimpft werden auf die amerikanische Regierung, aber vielfach ist es so, daß gerade diejenigen am meisten schimpfen, die am allerwenigsten Grund dazu haben, weil sie an der jetzigen Lage selbst mitschuldig sind und man weiß manchmal wirklich nicht, ob dieses Verhalten auf Dummheit oder Frechheit zurückzuführen ist.“

Dieses schwierige und undankbare Amt des Bürgermeisters hatte seit dem Frühjahr 1945 der ehemalige Kasseninspektor der AOK, Hans Setzer, übernommen, den die amerikanische Besatzungsmacht als vorläufigen Bürgermeister eingesetzt hatte. Er musste zusammen mit der Wohnungskommission in jedem Haus in ganz Nordheim nach Möglichkeiten suchen, wo Einzelpersonen oder Familien untergebracht werden können, notfalls auch gegen den Willen der Eigentümer. Oft musste sich eine mehrköpfige Familie mit einem Zimmer begnügen. Küche und Toilette musste häufig gemeinsam benutzt werden, was zu Spannungen zwischen Einheimischen und „Neubürgern“ führte.

 

Wie sahen die Zahlen in Nordheim nun tatsächlich aus? Bereits bis März 1945 waren fast 600 zusätzliche Personen in Nordheim untergebracht. 453 davon waren Evakuierte aus Heilbronn, der Rest kam aus dem gesamten Deutschen Reich und suchte Unterkunft bei Verwandten oder Bekannten. Außerdem mussten mehrere Nordheimer Familien, deren Häuser (15 an der Zahl) beim Einmarsch der Franzosen im April 1945 zerstört wurden, in Notunterkünften untergebracht werden. In dieser angespannten Situation trafen nun von Anfang Februar bis Ende Mai 1946 weitere 201 Personen in 5 Gruppen („1. – 5. Schub“ im Protokoll genannt) als sogenannte „Ostflüchtlinge“ in Nordheim ein (Protokollauszug wörtlich aus dem Original):

 

09.02.1946   1. Schub: aus Ungarn (Budaörs) mit 60 Personen (16 Männer, 24 Frauen,
                         20 Kinder)

                        Unterbringung im Rosensaal

 

  

 Zwei 1946 von den Vertriebenen mitgebrachte Ansichtskarten aus Budaörs;

Kriegerdenkmal und Panoramaansicht sowie der „Steinberg“, der Hausberg von Budaörs

 

18.04.1946    2. Schub: aus der Tschechoslowakei (Znaim); 28 Personen;

                         Unterbringung in der Neuen Schule, Südstraße

08.05.1946    3. Schub: aus Österreich, Tschechei, Jugoslawien; 52 Personen

                         Unterbringung in der Neuen Schule, Südstraße

17.05. 1946   4. Schub: aus Ungarn (Ödenburg); 38 Personen (11 Männer, 8 Frauen, 19
                         Kinder)

                         Unterbringung in der Neuen Schule, Südstraße

24.05. 1846   5. Schub: aus Ungarn (Ödenburg); 23 Personen

                         Unterbringung in der Neuen Schule, Südstraße und im Rosensaal

 

  

 Rose mit Saal                                                            Schule Südstraße

 

Die schnelle Folge der Flüchtlingstransporte machte eine sofortige Unterbringung in Wohnungen unmöglich. So mussten behelfsmäßige Notunterkünfte geschaffen werden. Im Saal des Gasthauses zur „Rose“ wurde deshalb eine Gemeinschaftsunterkunft eingerichtet. Seile mit Decken teilten den Saal in kleine Räume, um wenigstens ein Minimum an Privatsphäre zu gewähren. In den ersten Wochen wurden die Vertriebenen mit einer Gemeinschaftsverpflegung versorgt, dann konnten sich die meisten auf eigene Kosten verpflegen, da sie inzwischen Arbeit gefunden hatten. Die Gemeinde stellte einen Küchenherd zur Verfügung. Die Empore durften die Flüchtlinge zum Trocknen ihrer Wäsche benutzen. Bereits der „2. Schub“ vom 18. April 1946 aus der Tschechoslowakei musste in der Neuen Schule in der Südstraße untergebracht werden. Dort hatte man durch den Einbau von Zwischenwänden „einigermaßen wohnliche Zimmer geschaffen“. Das Flüchtlingslager im „Rosensaal“ wurde am 1. November 1946 aufgehoben, Anfang Juni 1949 zog die letzte Flüchtlingsfamilie aus dem Schulhaus aus, obwohl das sogenannte „Flüchtlingsgesetz“ vom 14. Februar 1947 festlegte, dass die Unterbringung in solchen Massenunterkünften nur vorübergehend sein sollte.

 

 

Zum besseren Verständnis für die Haltung der Einheimischen in dieser damals schwierigen Zeit und zur Vervollständigung der Situation in Nordheim in den ersten Nachkriegsjahren gehört auch die Tatsache, dass von den ca. 600 „Ausmarschierten“ Nordheimern 185 Männer den Krieg nicht überlebt haben. Die Gefallenen waren Väter, Söhne, Brüder. Das Leid und der Schmerz in vielen Familien war riesig, da manche Familie gleich mehrfach betroffen war.                         Beim Einmarsch im April 1945 zerstörte
                                                                                    Gebäude am westlichen Ende der
                                                                                    Hauptstraße neben dem Kindergarten

 

Mehrere Männer waren außerdem noch in Gefangenschaft, einige galten noch als vermisst. Bei einer „Heimkehrer-Feier“ am 25.2.1950 im Rosensaal sprach Bürgermeister Karl Wagner von 2 Nordheimern, die noch in Kriegsgefangenschaft sind und von 48 noch Vermissten mit unbekanntem Schicksal. Einige kamen als sogenannte „Spätheimkehrer“ erst Jahre nach Kriegsende in die Heimat zurück. Hinzu kam die Situation der Kriegsversehrten, die als schwer geschädigte und teilweise arbeitsunfähige Menschen, manche auch schwer traumatisiert, aus dem Krieg zurückgekehrt waren.

Aus den vor über 70 Jahren nach Nordheim gekommenen „Neubürgern“ oder „Flüchtlingen“ sind längst Einheimische geworden. Sie fanden in den Aufbaujahren nach dem Krieg rasch Arbeitsplätze, und zügig haben sie sich Wohnungen und Häuser geschaffen und sich in das Gemeindeleben integriert.

 

Wenn wir heute aktuell über Flüchtlinge in Nordheim reden, ist die Situation eine völlig andere als vor 70 Jahren, Vergleiche mit damals sind kaum möglich. Nach Deutschland kamen im „Flüchtlingsjahr“ 2015 etwa 890 000 Asylsuchende, 2016 waren es etwa 280 000 Menschen, die auf der Suche nach Schutz und Zuflucht aus allen möglichen Kriegs- und Krisengebieten in unser Land kamen. Die Fluchtmotive sind verschieden: Terror, Krieg, Verfolgung, Unterdrückung, Armut, Perspektivlosigkeit sind einige der Gründe, weshalb Menschen ihre Heimat verlassen. Manche verkaufen ihre letzte Habe, um mit dem Geld Schlepper oder Schleuser bezahlen zu können, mit deren Hilfe sie sich eine Ankunft und Zukunft in Europa erhoffen. Derzeit leben in Nordheim rund 80 geflüchtete Personen aus den Ländern Afghanistan, Albanien, Indien, Irak und Syrien und Eritrea. Es sind alles Familien, die von ehrenamtlichen Helfern des Asylkreises unterstützt und betreut werden.

 

                                                                             Infotafeln und Figuren zum Thema Flucht,
                                                                             Flüchtlinge etc. westlich des RRKV-Geländes am
                                                                             Weg, aufgestellt im September 2017

 

Im Grunde genommen ist das Thema Migration, Auswanderung, Flucht etc. eine Thematik, die sich kontinuierlich durch die Geschichte der Menschheit zieht und die nie zu Ende sein wird. Auch aus Nordheim sind vom 18. bis ins 20. Jahrhundert viele Menschen in andere Länder ausgewandert, weil sie in schlechten Zeiten hier keine Zukunft mehr sahen und sich in anderen Ländern bessere Perspektiven erhofften. Und die 202 Waldenser, die zwischen dem 21. und 23. Juni 1700 in Hausen ankamen und die man bald auch in Nordheim und in Dürrenzimmern vorübergehend untergebracht hatte, waren ebenfalls Flüchtlinge auf der Suche nach einer neuen Heimat, die sie sich dann in der Folgezeit in Nordhausen geschaffen haben. Im Jahr 2017 leben in Nordhausen inzwischen ca. 1500 Menschen aus 28 Ländern, in Nordheim leben derzeit bei ca. 6500 Einwohnern Menschen aus insgesamt 49 verschiedenen Herkunftsländern.

                                                                                                                                              Ulrich Berger

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