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Mitteilungsblatt Nordheim

Neues aus Nordheim und Nordhausen (Archiv)

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„Geschichte“ des Monats Dezember:

Erfasst von: Widenmeyer stillgelegt, Lisa | 29.11.2016 – 13.12.2016

Vor 200 Jahren:

1816, das „Jahr ohne Sommer“ – Beginn einer schlimmen Zeit

 

In vielen Medien wurde in diesem zu Ende gehenden Jahr 2016 über „das Jahr ohne Sommer“ 1816 berichtet. Wie kam es zu dieser seltsamen Bezeichnung, was muss man sich darunter vorstellen und wie war die Situation damals in Nordheim?

Im Jahr 1816 spielte das Wetter verrückt. Nicht enden wollende Regenwolken verdunkelten in Europa den Himmel von Skandinavien über Deutschland und die Schweiz bis nach Spanien. In vielen Orten und Regionen gab es immer wieder schwere Unwetter mit Wolkenbrüchen, Überschwemmungen und Hagelschlag. Für Nordheim liegen keine detaillierten Schilderungen vor, aber aus anderen Orten, wie z.B. aus Heilbronn und aus Massenbachhausen gibt es Berichte aus dieser Zeit:

Ein Gewittersturm fegte am Abend des 25. Mai 1816 über Heilbronn, dem ein dreitägiger Dauerregen folgte, so dass der Neckar über die Ufer trat und die Stadt überschwemmte. Für den Sommer 1816 sind in Heilbronn 95 Regentage verzeichnet und nur 15 Sommertage, am 5. August wütete ein Orkan.

Aus Massenbachhausen wird aus dieser Zeit berichtet: Anfang März überschwemmte der Neckar das ganze Tal zwischen Heilbronn und Wimpfen. Darauf gefror er 14 Tage. Mit jedem nur etwas heißen Tag gab es „fürchterliche Donnerwetter, Hagel, Überschwemmungen und Wolkenbrüche“, die allenthalben die Fruchtfelder

„Schreckens-Scenen, welche sich 1824          verwüsteten. Diese Wetterlage hielt
durch die große Überschwemmung              bis Ende August an. Aus diesen Berichten
zugetragen haben…“                                         kann man schließen, dass die Situation in

(aus einem Dreikreuzerblatt)                           Nordheim ähnlich war. Die viel zu niederen

Temperaturen und ständige Nässe führte zu Missernten bis hin zum Totalausfall der Ernte. Das Heu konnte nicht eingebracht werden, die Kartoffeln verfaulten und das Getreide verdarb. Daraus ergab sich, dass die Preise für Nahrungsmittel drastisch anstiegen. Für einen Laib Brot stieg der Preis in Heilbronn von Anfang 1816 bis Anfang 1817 von 22 Kreuzer auf 1 Gulden und 10 Kreuzer (1Gulden = 60 Kreuzer). Die Menschen hatten aber kein Einkommen mehr, da sie nichts zu verkaufen hatten. Die Folge davon waren Hunger und Armut in ganz Württemberg. Ein weiteres Problem war, dass nicht mehr genug Getreide für die Aussaat im kommenden Jahr vorhanden war.

 

Die württembergische Regierung versuchte, die Situation für die Menschen erträglich zu halten. Getreide wurde in besonders geschädigten Orten „zu Gnadenpreisen“ an hilfsbedürftige Einwohner abgegeben. Dazu wurde auch Getreide im Ausland zu teuren Preisen aufgekauft (Norddeutschland, Holland, Russland). Der Ausfuhrzoll von Lebensmitteln wurde drastisch erhöht, zeitweise wurde die Ausfuhr ganz verboten. Das Oberamt Brackenheim gab Ende Juni 1816 als Antwort auf eine Bittschrift aus Nordheim 25 Scheffel Dinkel ab „an die meist bedürftigen Bürger, auszuteilen vom löblichen Schultheißenamt Nordheim“ (1 Scheffel ≙ 177Liter). Dazu wurden 21 Bürger als besonders hilfsbedürftig namentlich festgelegt. Der Bettel in Nordheim nahm zu, vor allem kamen immer mehr auswärtige Bettler. Deshalb wurde ein „Bettelvogt“ ernannt, er musste die armen auswärtigen Bettler aufspüren und aus dem Ort führen. In dieser Hunger- und Notzeit 1816/17 wanderten etwa 16 000 Menschen aus Brotmangel und allgemeiner Not aus Württemberg aus. Auch noch in den Folgejahren zog es viele Württemberger ins Ausland. Ziele waren Amerika, Russland (Kaukasien, Bessarabien), Polen, Siebenbürgen. Auch aus Nordheim verließen in dieser Zeit etliche Bürger ihre Heimat und versuchten ihr Glück in der Auswanderung.

 

Die Regierung des Königreichs Württemberg unter der Leitung von König Wilhelm I. und seiner Gemahlin, Königin Katharina von Württemberg suchten Lösungen für diese Krisenzeit und brachten einige bedeutende Einrichtungen und Verbesserungen auf den Weg:

 

  • Das Wohlfahrtswerk für Baden-Württemberg ist aus einer Initiative von Königin Katharina von Württemberg (1788–1819) hervorgegangen, die im Jahre 1817 eine koordinierende „Zentralleitung des Wohltätigkeitsvereins“ gründete.

 

  • Königin Katharina gibt den Anstoß zur Gründung der Württembergischen Landessparkasse (12. Mai 1818). Die Menschen sollten die Möglichkeit haben, auch kleine Geldbeträge sicher aufbewahren zu können.

 

  • Die Landwirtschaft sollte reformiert und modernisiert werden. Die Gründung der Universität Hohenheim geht zurück auf die landwirtschaftliche Unterrichts-, Versuchs- und Musteranstalt, die durch König Wilhelm I. von Württemberg zu diesem Zweck am 20. November 1818 gegründet wurde.

 

  • Im September 1818 gab es erstmals ein „Landwirtschaftliches Hauptfest in Kannstadt“ mit Ausstellungen, Preisen für Viehzucht, Pferderennen usw. Aus diesem Fest entstand das „Cannstatter Volksfest“. Die Fruchtsäule auf dem „Wasen“ erinnert heute noch an den Ursprung dieses ehemals rein landwirtschaftlichen Volksfestes.

 

Aus Heilbronn wird berichtet: „Die Menschen essen Brot, das mit ausgepressten Leinsamen gestreckt wird. Oder mit Kleie, gemahlenem Stroh und Sägemehl. Futterkräuter, Wurzeln und Kartoffellaub werden ausgekocht, Hunde und Katzen verspeist. Die Armen essen Sauerampfer, Brennesseln, Schlüsselblumen und Klee.“

Mit der Ernte 1817 kommt Hoffnung auf, doch starke Regenfälle im Juli (Mehltau) und Nachtfröste im Oktober machten fast die gesamte Traubenernte zunichte.              Erntewagen auf dem Marktplatz in Heilbronn 1817

Dennoch kam es in Heilbronn am 8. Juli 1817 unter Lobgesängen zum feierlichen Einzug des ersten bekränzten Erntewagens in die Stadt. Der Zug wurde von Schulkindern begleitet und endete auf dem Marktplatz. Diese Szene wurde von Franz Friedrich Schmidt auf einer Lithographie festgehalten: Der Text oben in der Mitte lautet:

„Zum Angedencken der Grossen / Theuerung / 1817 / Du bester Trost der Armen / Du Herr der ganzen Welt O Vater / Voll Erbarmen, der alles trägt und hält, Schau / Her auf unsere Noth. Erbarme Dich der Deinen, Die Armen / Gehn und weinen und Schmachten Herr nach Brodt.“

In Willsbach hatte man zum Gedenken an das Teuerungsjahr 1816/17 im Garten des Wirtshauses „Zum Ochsen“ einen Gedenkstein aufgestellt. Heute ist dieser Stein am Steinackerweg 6 in einer Mauer eingemauert. Die Inschrift lautet:

 

 

Zum

Andenken

an die große

18 Theuerung 17

 

                               Herr gib uns täglich Brod

                               Aus Gnaden immerdar

                               Vor Mangel theurer Zeit

                               Uns fernerhin bewahr

 

                               1 Scheffel Dinkel 48 fl [Gulden]

                               1 Simri Haber 2 fl 40 Kr [Kreuzer]

                               1 Sri Gerste 9 fl

                               1 Sri Kartoffel 3 fl 12 Kr

                               1 Weck 1 Loth

                               J. F. Rudolph

 

 

(1 Scheffel = 177,2 Liter; 1 Simri = 22,15 Liter; 1 Lot = 14,5 Gramm (württembergisches Maß von 1806).

 

Im Laufe des Jahres 1817 trat eine Linderung der größten Not ein, der Brotpreis sank kräftig, und es wurden Gedenkmünzen und Dankblätter in Umlauf gebracht. Ein solches Dank- oder Gedenkblatt befand sich im Besitz der Nordheimer Familie Reutter/Plieninger:

Die Abschrift dieses Blattes lautet:

 

Zur dankbaren Erinnerung der Güte

Gottes, welche der allgemeinen unerhörten Theurung durch

eine gesegnete Erndte ein Ziel setzte, im Jahr 1817

 

Herr gib uns täglich Brod

Aus Gnaden immerdar!

Vor Mangel, theurer Zeit

Uns fernerhin bewahr.

 

Lobe den Herrn!

 

der dein

Leben vom Verderben errettet.

Diese Theurung erstreckte sich über den größten Theil von

Europa. Für die deutschen Staaten wurde viel russisches

Getreide aufgekauft. Der Scheffel Dinkel stieg bis auf 46

und 48 Gulden, das Simri Haber kostete 2 fl.40 kr.,

1 Simri Gersten 9 fl., 1 Simri Kartoffeln 3 fl.30kr.

1 Kreuzer=Weck wog 1 Loth. Viele Arme

assen Gras und Holzbrod.

 

 

 

Eine Erklärung für die Wetterkapriolen des Jahres 1816 und der Folgejahre bis etwa 1819 wurde erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts gefunden. Der amerikanische Klimaforscher William Humphreys fand 1920 die Ursache für das „Jahr ohne Sommer“. Er führte die Klimaveränderung auf den Vulkanischen Winter in Folge des Ausbruchs des Vulkans Tambora auf der Insel Sumbawa östlich von Java im heutigen Indonesien zurück. Dieser war am 5. April 1815 ausgebrochen und hatte ungeheure Mengen an Magma, Gas, Asche und Staub in die Erdatmosphäre geschleudert. Das Ausbruchszenario dauerte über eine Woche, und der zuvor etwa 4300m hohe Tambora verlor etwa 1500m seiner ursprünglichen Höhe. Das durch die Eruption ausgeworfene Material (Staub, Asche, Geröll, Schwefelgase) verdunkelte den Himmel und absorbierte viel Sonnenlicht. Das bewirkte globale Klimaveränderungen, die aufgrund der Auswirkungen auf das nordamerikanische und europäische Wetter dem Jahr 1816 die Bezeichnung „Jahr ohne Sommer“ einbrachten, das man in Deutschland auch „Achtzehnhundertunderfroren“, in den USA sinngemäß „Eighteen hundred and frozen to death“ genannt hat.

                                                                                                                                              Ulrich Berger

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